Es war einmal

eine kleine Schneeflocke. Wie sie zu einer Schneeflocke geworden war, wusste sie nicht mehr. Aber wer weiß schon, wie er zu dem wurde, was er heute ist.
Die Schneeflocke begann darüber nachzudenken, als sie unter sich Kiefer- und Tannenwipfel erkannte, dazwischen kräuselten sich lange Alleen, auf denen blecherne Käfer krochen und manchmal sprang ein Reh von einer Seite des Wäldchens auf die andere.
„Flieg nicht so tief, wenn Du was von der Welt sehen willst!“, hörte das Schneeflöckchen eine bedächtige Stimme neben sich. Eine ziemlich dick geratene Flocke sorgte sich um das Schneeflöckchen.

Stimmt. Das hatte es mal gelernt. Man musste sich aerodynamisch schräg in den Winterwind legen und dann ging es wieder aufwärts.

Jetzt erkannte das Schneeflöckchen große weite Flächen zwischen den Bäumen, es mochten Felder oder Seen sein. Um dies zu erkunden musste es wieder ein bisschen tiefer fliegen, den Schornsteinen ausweichen und nicht zufällig gerade in den Schnabel einer Krähe fliegen. Mein Gott, war das anstrengend. Unversehens geriet Schneeflöckchen in den Sturm zehntausender Flocken und musste ständigen Anrempelungen widerstehen, sich kopfüber schubsen und seitlich puffen lassen.

Endlich wurde es ein bisschen ruhiger. Schneeflöckchen rieb sich die Augen und entdeckte zwei rote Türmchen am See, ganz rot waren sie nicht, weil sich mindestens die Hälfte der zehntausend Flocken darauf niedergelassen hatte. Auch auf den Fenstersimsen saßen sie, mal eng aneinander gekauert und mal gespannt bereit, davon zu fliegen. Der Wind vom See trieb die Flocken zwischen den Kolonnaden durch auf den Schlosshof oder er ließ sie auf der Höhe des Marmorsaals tanzen, so dass sich jede Flocke in den Spiegeln des Saales mehrfach erkennen konnte.

Ein Wirbel erfasste Schneeflöckchen und trug es mit sich fort bis sich unter ihm ein großer See ausbreitete, es konnte die Fische sehen, wo der See nicht zugefroren war.

„Flieg nicht so tief, wenn Du was von der Welt sehen willst“, brummte wieder eine dicke Flocke neben ihm.
„Ist das die Welt ?“, fragte Schneeflöckchen? Aber die Brummflocke war schon weg. Schneeflöckchen legte sich schräg links in Fluglinie und stob wieder nach oben. Es sah viele Menschen, große und kleine, alle herum um Buden mit Quarkbällchen, Lebkuchen und Glühwein. Ein Karussell drehte seine Runden, Ponys trugen kleine Kinder über die Straße, Mützen und Handschuhe gab es zu kaufen.

„Flieg nicht so tief, wenn Du die Welt sehen willst!“, drang es wieder an Schneeflöckchens Ohr. „Ja ich möchte sie aber doch nicht nur sehen, ich möchte doch auch dabei sein“, sagte es schnell. Die dicke Flocke neben ihm war gerade vom Kirchendach heruntergepurzelt und hatte ihre Nächstenliebe entdeckt: „Na gut, sag schnell drei Wünsche und ich helfe Dir, sie zu erfüllen!“ -
„Ich möchte aussehen wie eine Prinzessin.“ -
„Das tust du schon lange, aber verbrenn dir nicht dein Kleid am Würstchenstand.“ -
„Ich möchte den Advent fühlen, den hier alle feiern.“ –
„Das kannst Du, guck, den Lichterbaum auf dem Weihnachtsmarkt an und er wird Dir das Herz öffnen“. -
„Ach ja und noch eins, ich möchte Weihnachtslieder hören“. -
„Dann nimm all Deine Kraft zusammen und flieg zum Schlosstheater rüber, da singen gerade der Frauenchor Rheinsberg und der Arbeitergesangsverein Vorwärts.“
Und wieder legte sich das Schneeflöckchen in Schieflage, bekam Auftrieb und es gelang ihm, in ein Fenster des Schlosstheaters hinein zu lauschen. Das war so schön, dass es nicht auf die Wärme der Menschen achtete, die gutgelaunt an Tischen saßen und den Schnee am Fenster zum Schmelzen brachten. Das Schneeflöckchen träumte vor sich hin. Es war jetzt wunderschön, glücklich und mitten im weihnachtlichen Konzert. Es tropfte vom Fenster herunter und kullerte in einem langen Rinnsal in den Grienerick- See, aber davon merkte es nichts mehr.

Mit ein bisschen Glück fliegt es dir in hunderttausend Jahren wieder auf die Nase.

Ulrike Liedtke, 6.12.2012