An den Weihnachtsmann
An den Weihnachtsmann, Weihnachtspostfiliale, 16798 Himmelpfort
Seit einigen Tagen treffen wieder viele Briefe in Himmelpfort ein. Himmelpfort liegt kaum mehr als 30 km von uns entfernt, hat knapp 500 Einwohner, die Ruine eines alten Zisterzienserklosters und ein Postamt. Im Jahr 1984 trafen hier zum ersten Mal zwei Briefe von Kindern an den Weihnachtsmann ein und wurden durch eine Mitarbeiterin des Postamtes beantwortet. Gut zehn Jahre später, 1995, stellte die Deutsche Post AG Mitarbeiter für die Beantwortung dieser Zuschriften ein. Heute treffen jährlich mehr als 300.000 Briefe aus rund 70 Ländern an den Weihnachtsmann in Himmelpfort ein. Alle werden beantwortet.
Alex und Mia gehen in die 3. Klasse. Sie verstehen sich gut, spielen oft zusammen oder passen gemeinsam auf ihre kleinen Geschwister auf. Alex hat einen zwei Jahre jüngeren Bruder, der macht ihm alles nach, aber er ist schon in Ordnung, manchmal jedenfalls. Mia hat zwei noch sehr kleine Schwesterchen. Die hätte sie schon gern eingetauscht gegen eine große Schwester! Aber da sie selbst nun mal die große Schwester ist, bastelt sie alles zwei Mal und ganz genau gleich, damit es keinen Streit gibt. Das klappt, manchmal jedenfalls.
Heute ist Alex zu Besuch bei Mia. Sie wollen an den Weihnachtsmann schreiben. Was kann man sich wünschen? Ein ferngesteuertes Mondfahrzeug mit Drohnenfunktion wäre gut. Die Spielzeughersteller haben so was nicht. Sie haben entweder Mondfahrzeuge oder Drohnen, aber kein Fahrzeug, das beides kann. Mia guckt sich alle Internetseiten genau an, um dem Weihnachtsmann schreiben zu können, wo er sich das Gefährt für Alex angucken kann. Falsche Geschenke sind ja wirklich schlechte Geschenke. Schließlich malen sie das Mondfahrzeug mit Drohnenfunktion auf und Alex schreibt noch dazu, dass er mit seinem Papa damit spielen will, denn Mama und Papa wohnen nicht mehr zusammen und Alex wechselt wöchentlich mit seinem Bruder das Zuhause – eine Woche Papa, eine Woche Mama. Mit Papa kann er Quatsch machen und zum Fußball gehen, Mama liest die besten Gutenachtgeschichten der Welt. „Das geht schon“, sagt Alex auf Mias Frage.
„Aber was wünschst Du Dir, Mia?“
Sie denkt nach. Barbies hat sie schon 12, Schuhe, Sandalen und Stiefel für alle Püppchen mehrfach, auch wenn immer mal ein paar fehlen. Eigentlich hat sie alles. Mama und Papa könnten vielleicht manchmal mehr da sein, aber wenn sie zu viel arbeiten, kommen Oma und Opa vorbei. Nur in letzter Zeit sind beide besorgt, weil die Uroma besorgt ist. Ja, zu Mia gehört auch eine Uroma. Seit ihrem 80sten Geburtstag hat Mia nicht mehr mitgerechnet, wie alt sie wird. Die Uroma geht gerne einkaufen und trifft sich mit Ihren Freundinnen, bei Familienfeiern bringt sie die größte Torte mit. Alt ist sie jedenfalls gar nicht. Nach einem Likörchen erzählt sie von früher sehr lustige Geschichten.
Nur in letzter Zeit nicht. „Dass ich das noch Mal erlebe, hätte ich nicht gedacht“, sagt sie. Dann wird sie ganz still und denkt an den kalten Keller, in dem sie vor sehr langer Zeit mit ihrer Mutter saß und wartete, dass alle wieder in ihre Wohnungen durften.
Vielleicht sollte Mia sich vom Weihnachtsmann wünschen, dass die Uroma wieder lustige Geschichten erzählt? Oder alle Tortenzutaten, die würde sie bestimmt im Internet finden und dem Weihnachtsmann aufschreiben können. Die Kinder sind sich einig, dass man sich beides wünschen kann, ein Mondfahrzeug mit Drohnenfunktion und eine lustige Uroma. Und während sie das aufschreiben und noch einen Tannenbaum dazu malen, denken sie darüber nach, was sich Eltern, Großeltern, Uroma und Geschwisterchen wünschen würden. Dass alle gesund sind vielleicht. Und dass sie keine Sorgen haben. „Am besten ist es“, finden sie, „wenn alle da sind.“ Auch wenn das manchmal laut ist, weil alle fröhlich sind. In solchen Momenten fühlen sich Alex und Mia ganz besonders und ganz stark.
Ihr Brief an den Weihnachtsmann liegt noch offen auf dem Tisch. Als sie den Fernseher anschalten sehen sie Bilder von kaputten Häusern, in denen niemand mehr wohnen kann. Sie schreiben noch einen Wunsch dazu:
„dass alle ein Zuhause haben.“
Am Abend klebt die Mutter den Briefumschlag zu, auf dem die Adresse steht
An den Weihnachtsmann, Weihnachtspostfiliale, 16798 Himmelpfort - und natürlich ein Absender, damit Alex und Mia eine Antwort erhalten.