Reden und Grußworte aus 2024

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- Es gilt das gesprochene Wort-

8. Mai 2024, 79. Tag der Befreiung
Rede der Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke

Trauer, Gedenken, Scham, Vergegenwärtigung eigener Geschichte und Dankbarkeit – all das umfasst der Tag der Befreiung für uns in Deutschland, in Brandenburg.

Sehr geehrter Herr Gesandter Price,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete
liebe Ministerinnen und Minister!

Herzlich begrüße ich unter uns auch den Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Potsdam, Mike Schubert,
den Kommandeur des Landeskommandos Brandenburg Herrn Oberst Detlefsen,
den Vertreter der Botschaft der Tschechischen Republik, Herrn Zacek
sowie die Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften, Parteien, Verbände und Vereinigungen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Brandenburgerinnen und Brandenburger!

Es ist mir eine Ehre und Freude, Sie heute im Landtag Brandenburg begrüßen zu dürfen.

Die Vollversammlung des Bundesjugendrings hat am 27./28.10.2023 die Position beschlossen, „den 8. Mai als ,Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des zweiten Weltkriegs‘ zum gesetzlichen Feiertag machen.“ Ein Gedenktag, ein Tag der Erinnerung, ein Tag der Versöhnung. Und ein Tag des Dankes an alle, die den Nationalsozialismus bekämpften und besiegten.

Dieser 8. Mai ist nicht nur für uns Deutsche ein Befreiungstag, er ist es umso mehr für die Befreier selbst – als Gedenktag an diejenigen, die ihr Leben in Gefahr brachten und opferten, um Frieden zu schaffen.

Heute kann ich den amerikanischen Menschen und ihren Soldaten voller Hochachtung danken für die Befreiung von Krieg und Zerstörung.

Mit der Landung der Alliierten in der Normandie begann am 6. Juni 1944 die entscheidende Schlacht gegen die „Festung Europa“, wie die Nationalsozialisten zynisch das von ihnen besetzte französische Gebiet nannten.

Der D-Day, der Entscheidungs-Tag, markiert hingegen den Schritt zu einem befreiten Europa, ein Europa, das es als Völkerbund noch nicht gab.

An diesem D-Day 1944 wandte sich US-Präsident Franklin D. Roosevelt in einer Radioansprache an die Amerikaner.

Er sprach von einem „gewaltigen Unterfangen. “Während die alliierten Truppen die Steilküste an der Pointe du Hoc erklommen, erklärte Roosevelt im Radio, dass sie für einen Frieden kämpften, „der allen Menschen ein Leben in Freiheit bringen wird“.

Mit über 3.100 Landungsbooten, unter dem Feuerschutz von 1.200 Kriegsschiffen und 7.500 Flugzeugen landeten im Morgengrauen rund 150.000 Amerikaner, Briten, Franzosen, Polen sowie Kanadier und weitere Commonwealth-Angehörige an fünf verschiedenen Stränden der Normandie. Das sind die geschichtlichen Fakten.

Wie brutal, wie blutig und tödlich die ersten Tage und der insgesamt fast 3 Monate dauernde Kampf gegen Deutsche war, sehen wir heute in Filmen, „Der Soldat James Ryan“ ist solch ein Film von Steven Spielberg, mit Tom Hanks in der Hauptrolle, mit Musik von John Williams. 1998 kam er in die Kinos, mit fünf Oscars und zwei Golden Globes ausgezeichnet. Im Abspann des Filmes kommen Zeitzeugen zu Wort, auch der Historiker Steven E. Ambrose mit dem bitteren Nachtrag:

„Diese 17-, 18-, 19-jährigen Kids wollten nicht dort sein. Sie wollten mit 22er-Schrotflinten auf Kaninchen schießen, nicht mit M1er-Gewehren auf andere junge Männer. Die wollten Softballs werfen, nicht Handgranaten.

Aber eine böse Kraft war in der Welt entfesselt worden, und es war ihr Los, sich darum zu kümmern. Und als die Gesellschaft sagte: ‚Ihr müsst gehen und kämpfen‘, taten sie es.“
Viele der ersten Soldaten überlebten die Landung nur um wenige Minuten.
Wir in Europa und sogar die Menschen in der ganzen Welt dürfen nicht vergessen, dass über ein Vierteljahr hinweg fast eine Million Soldaten der alliierten Streitmacht gegen deutsche Soldaten kämpften, damit wir leben können.

Am 31. Juli 1944 durchbrachen die Amerikaner die deutsche Front, der Weg nach Paris war frei, der Krieg ging Tag für Tag dem Ende zu, wenngleich die Schlacht um Berlin noch bevorstand.
Jedes Jahr besuchen Menschen aus aller Welt die Schlachtfelder in der Normandie, nicht nur die Nachkommen der Opfer. Es waren wohl mehr als 65.000 Soldaten, die hier gefallen sind. Jeder von ihnen hatte Pläne, Wünsche, Träume. Seine einzigartige Geschichte.

„Wer Frieden will, der rede vom Krieg, er rede von seinen Anstiftern, von seinen gewaltigen Ursachen, seinen entsetzlichen Mitteln“, hat Walter Benjamin einmal gesagt.
Ich denke er hat recht. Ohne die Anerkennung der entsetzlichen Realität des Krieges wird es uns nicht gelingen, zu einer Friedenslogik zu kommen, die die Logik des Krieges überwindet. Tatsächlich verstehen konnte ich das erst mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine.

Sehr geehrte Damen und Herren,
dass wir heute von dieser Realität des Krieges miteinander sprechen können, Deutsche und Amerikaner, dass wir unsere unterschiedlichen Perspektiven über den Krieg, über die Shoa miteinander teilen können, das macht mich dankbar und zugleich auch zuversichtlich, Sieger und Verlierer von einst sind heute Partner in ihrem Engagement für eine freie und friedliche Welt. Aus Besiegten wurden Befreite.

Eine große humanistische Tat. Die USA, ein Ursprungsland der Demokratie, haben Deutschland die Hand gereicht. Für uns Deutsche ein kostbares Geschenk.

Ich denke an die Gründer der Atlantik-Brücke, Marion Gräfin Dönhoff, Erik Blumenfeld und Ernst Friedlaender, Eric M. Warburg und Gotthard von Falkenhausen – Gegner des Nationalsozialismus oder jüdische Deutsche, die vor den Nazis fliehen mussten. Wenige Jahre nach dem Holocaust wollten sie Deutschland zurückführen in die Gemeinschaft demokratischer Staaten.

So wie die Gründer der Atlantikbrücke wurden viele deutsche Wissenschaftler und Künstler in den USA mit großer Offenheit aufgenommen und konnten in den Vereinigten Staaten ihre Arbeit in Freiheit fortsetzen. Kurt Weill, Otto Klemperer, Erich Fromm, Walter Gropius, Theodor Adorno, die jüdisch-deutsche Philosophin Hannah Arendt.

Sie fragt wie „Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte“ möglich werden konnten, „wie möglich werden konnte, was eigentlich nicht menschenmöglich ist“. Von dieser Frage aus formulierte sie eine Ethik nach Auschwitz, die auf Denken und Erinnern gegründet ist. Erinnerungskultur.
Ihr Blick aus den USA auf Deutschland, frei und klar, analysierte schon früh nationalsozialistische Verbrechen als etwas, „das niemals hätte geschehen dürfen, denn die Menschen werden unfähig sein, es zu bestrafen oder zu vergeben. Hiermit uns zu versöhnen und es zu begreifen, werden wir nicht in der Lage sein.“
Es gibt sie, „die Banalität des Bösen““, Arendt hatte 1961 als Prozessbeobachterin für das Magazin „The New Yorker“ den Eichmann-Prozess verfolgt.
In höchster Präzision beschreibt sie, was wir heute als „Weggucken oder „Mitmachen“ bezeichnen, das Böse nicht wahrnehmen oder nicht darüber nachdenken. Sie hat für uns heute geschrieben, aus transatlantischer Perspektive.

Meine Damen und Herren,
die USA waren die ersten, die den Deutschen die Demokratie wieder zugetraut haben. Demokratie in Deutschland, die beim ersten Versuch gescheitert war, wurde mit Unterstützung der Vereinigten Staaten nach 1945 wieder aufgebaut.
Die junge Bundesrepublik konnte an der Seite Amerikas zu einem anerkannten Akteur der Weltgemeinschaft werden, trat der Nato bei, schließlich den Vereinten Nationen.
All das wäre ohne die USA undenkbar gewesen, wie auch der politische, kulturelle und wirtschaftlicher Wiederaufbau im Westen Deutschlands. Der Marshallplan ermöglichte der Bundesrepublik einen Neubeginn.

Im Osten Deutschlands haben wir Kriegsende und Nachkriegszeit anders erlebt.

Die grausame Schlacht um Berlin endete mit der roten Fahne auf dem Reichstag, an dem Brandenburger Tor, wir begehen den 8. Mai vor 79 Jahren als Tag der Befreiung durch die Rote Armee, durch Soldaten aus Russland, der Ukraine, Belorussland, durch Balten und Armenier und Georgier, durch Soldaten aus den 15 Ländern der Sowjetunion und angeschlossene Polnische Verbände.
Die Befreiung führte im Osten in eine neue Diktatur, die das Erinnern an die Verbrechen des Nationalsozialismus vereinnahmte und behauptete, mit dem Aufbau des Sozialismus in der DDR sei der Nationalsozialismus für immer überwunden.

Erst die friedliche Revolution 1989, der erste gelungene Aufstand gegen eine Diktatur in der deutschen Geschichte und Aufbruch zur Demokratie, hat es möglich gemacht, diesen gesellschaftlichen Verdrängungsprozess zu überwinden.

Das prägt unser Erinnern bis heute. Wir haben verstanden, dass Erinnerungskultur eine europäische Aufgabe ist, nach einem Weltkrieg sogar eine weltumfassende Aufgabe.

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine steht der Tag der Befreiung auch für uns im Osten in einem neuen Licht. Wieder die unerträgliche Realität des Krieges, die wir nicht für möglich gehalten hatten, wieder junge Männer, die 18, 19 oder 20jährig ihr Leben lassen müssen.

Wieder der tiefe Wunsch nach Gerechtigkeit, nach einem Ende der Aggression, nach Frieden. Die Ukraine verteidigt sich, Polen, Deutschland, Europa und die USA unterstützen die Ukraine.

Dieser Krieg in der Ukraine wird für uns in Ostdeutschland und gerade am Tag der Befreiung besonders unverständlich.

Wir haben einen Konflikt mit unserem Selbstverständnis und mit unserer Geschichte: Russen, deren Urgroßväter zu den Befreiern gehörten, kämpfen in brutaler Weise gegen ein Volk, das selbst zu unseren Befreiern vom Nationalsozialismus gehörte.

Wir hatten ein anderes Russland kennengelernt. Gastfreundliche Menschen, die mit Deutschen von Vergebung sprachen.

Noch immer nach allem ist da eine tiefe Empathie für russische Literatur und Musik, für Tschechow, Dostojewski, Tolstoi. Für Tschaikowski, Mussorgski, Schostakowitsch, für neue aktuelle Kunst.

 

Heute müssen wir uns eingestehen, dass unser Russlandbild romantisch war. Und unvollständig, wir haben das Beunruhigende ausgeblendet. Zu sorglos, zu nachlässig waren wir mit dem hohen Gut des Friedens, mit dem „Nie wieder!“

Krieg in der Ukraine, Terroranschlag auf Israel. Krieg in Gaza. Wie orientieren wir uns in der Unübersichtlichkeit der Konflikte in der Welt, ohne die Schreckensereignisse durch Vergleich und Einordnung zu relativieren.

Die neuen Schreckensbilder vom Pogrom der Hamas am 7. Oktober, die Bilder aus Gaza, die Nachricht, dass Rechtsextreme und Neonazis die Deportation von Millionen Menschen aus Deutschland planen, überlagern sich mit den verstörenden Bildern der Vergangenheit. Hassdemos gegen Israel, das Schweigen in der Kulturszene nach dem 7. Oktober.

Es ist nicht mehr genug, zu sagen: Nie wieder. Wir müssen uns fragen, warum wir heute erinnern und wie die Kraft der Erinnerung die Müdigkeitserscheinungen und Überforderung in der politischen Kultur überwinden kann. Dafür brauchen wir öffentliche Räume und Gespräche miteinander, in Brandenburg, in Deutschland, in Europa und mit unseren transatlantischen Partnern in den USA.

Wir müssen uns neu verständigen über die Zukunft der Demokratie. Wir wissen, dass sich Demokratie mit ihren eigenen Mitteln abschaffen kann. Das gab es schon einmal in Deutschland.

Demokratie ist verletzlich, muss täglich gelebt, weiterentwickelt und erstritten werden. Dieses leidenschaftliche Engagement für Demokratie verbindet uns - in Europa und in unserem transatlantischen Bündnis.

Denn die transatlantische Freundschaft und Partnerschaft war schon immer eine Wertegemeinschaft - für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Selbstbestimmung der Menschen.

Wenn wir diese Werte leben, wenn wir uns von ihnen leiten lassen im eigenen Land, in Städten und Gemeinden, mit unseren Partnern in Polen und Frankreich werden wir Krisen bewältigen.

Ich bin voller Zuversicht, dass es uns gemeinsam gelingt.
Ich begrüße den Vorschlag des Bundesjugend-rings, den 8. Mai als „Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des zweiten Weltkriegs“ zum gesetzlichen Feiertag machen.“

Als Gedenktag, als Tag der Erinnerung, als Tag der Versöhnung. Als Tag des Dankes an alle, die den Nationalsozialismus bekämpften und besiegten. Und: als Tag vieler Ideen für eine friedliche Zukunft.

Vielen Dank.

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Eröffnung der Foyerausstellung „Erzähl mir von Europa!“, 7. Mai 2024 -
Begrüßung durch Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Boudon,
sehr geehrter Herr Staatssekretär Ubbelohde,
sehr geehrter Herr Strauß, Vorstandsmitglied des Vereins Arbeit an Europa e.V.
sehr geehrte Frau Fiebelkorn, MdFE
sehr geehrte Frau Brunner, sehr geehrte Frau Thiele, die Choreografinnen der tänzerischen Intervention,
liebe Schülerinnen des Friedrich-Gymnasiums in Luckenwalde,

„Erzähl mir…“ – das sagen Kinder zu ihren Großeltern, Freunde zu Freunden, Frauen zu ihren Männern und umgekehrt, Daheimgebliebene zu zurückkehrenden Reisenden, die Neugierigen zu denen, die etwas erlebt haben.

„Erzähl mir davon“ – das ist der Beginn aller Geschichten und jeder Übermittlung von Geschichte. Mit diesem „Erzähl mir“ hat Europa angefangen: als Sage von Zeus (oder auch Jupiter), der in Gestalt eines Stiers die schöne Tochter eines phönizischen Königs entführt. So haben es sich die Griechen und die Römer erzählt, ein Gründungsmythos für unseren Kontinent.

Das Erzählen war schon immer wichtig zum Verständnis und zur Verständigung zwischen Menschen wie Völkern; zum Austausch und zum gegenseitigen Lernen.
Das Erzählen am Feuer, auf dem Marktplatz, im Forum oder Theater ist die Geburtsstunde jeder Literatur, eine sozusagen antike Säule der Kultur neben Singen, Musizieren, Tanzen, Malen und Gestalten.

Deshalb freue ich mich, dass sich unsere neue Foyerausstellung auf das Erzählen bezieht und stützt: Auf die mündliche Überlieferung von Geschichten und Geschichte. Junge Menschen haben Ältere befragt nach ihren Erlebnissen und Erfahrungen; eine wunderbare Idee als Ausgangspunkt für eine Ausstellung.
Im Gespräch entsteht das Miteinander – wie am Lagerfeuer, auf dem Marktplatz.

Den thematischen Bezugspunkt in diesen Erzählungen der Großeltern und Urgroßeltern bildet Europa: nicht das Europa aus der Mythologie mit Göttern, Stieren und jungfräulichen Königstöchtern, sondern unser Europa – der Kontinent, auf dem wir leben mit Hunderten Millionen anderer Menschen.
Dieses Europa ist vieles:

Eine schöne Idee und ein konkretes Projekt, das über die Jahrzehnte weit vorangekommen ist;

ein Ideal, das als fernes Ziel dient – und ein gewachsenes Gebilde aus Institutionen, Behörden, Einrichtungen;

ein Traum von Frieden und Wohlstand für alle – und eine Realität, die leider noch immer von Konflikten, Krisen, gelegentlich sogar Krieg geprägt ist.

Anrede,

das Land Brandenburg hat in diesem Europa seinen Platz gefunden, es liegt ja mittendrin. Und am Beispiel unseres Landes lässt sich zeigen, was tatsächlich an Erfolgen und Fortschritten gelungen ist über die Jahrzehnte:

Wer hätte vor 34 Jahren, als Brandenburg wiedergegründet wurde, vorhersagen können, dass wir auf einem Großteil des Kontinents mit einer einheitlichen Währung bezahlen, dem Euro?

Wer hätte vermutet, dass die europäischen Staaten derart eng zusammenwachsen und dabei doch ihre Eigenarten bewahren?

Wer hätte Europa zugetraut, auf eine so unerhörte Herausforderung wie die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen gemeinsam zu reagieren?

Bei allen Problemen, die es in der europäischen Zusammenarbeit gab und gibt: Unsere gemeinsamen Werte und die Institutionen der Union haben sich als tragfähig und lebendig erwiesen. Davon profitiert auch Brandenburg in vielfacher Weise.

Seit der Ost-Erweiterung der Gemeinschaft ist unser Bundesland umgeben von Partnern und Freunden. Die Verbindungen zu Polen sind eng und herzlich; was täten wir, um nur ein Beispiel zu nennen, ohne die vielen Fachkräfte aus dem Nachbarland, die bei uns in Brandenburg arbeiten?

Der Nutzen der Europäischen Integration zeigt sich für die Brandenburgerinnen und Brandenburger zudem ganz praktisch:

In der regionalen Entwicklungsförderung und bei sozialen Projekten ebenso wie für die Landwirtschaft, den ländlichen Raum. Allein in der letzten Finanzperiode hat Brandenburg aus EU-Mitteln 2,2 Milliarden Euro erhalten; das hat unseren Aufschwung und den wirtschaftlichen Aufholprozess enorm unterstützt. Europa hat so auch dazu beigetragen, Heimat zu erhalten und lebenswert zu gestalten.

Heute steht Brandenburg als eine Musterregion in Europa gut da, attraktiv für Investoren, mit einem Rekordwachstum im vergangenen Jahr und besten Aussichten für die Zukunft. Das haben wir auch Europa zu verdanken.

Die weitere Entwicklung unseres Landes wird aus Brüssel ebenfalls erheblich gefördert. Ein Beispiel dafür ist der Strukturwandel der Lausitz vom Kohlerevier zu einer Innovationsregion, das Europa begleitet und unterstützt.

Wenn ich die Ausstellung betrachte und die Interviews mit Zeitzeugen höre, bin ich überzeugt: Europa kann seine Erfolgsgeschichte trotz aller Hindernisse und Krisen fortschreiben. Voraussetzung dafür ist, dass es offen bleibt für die Wünsche und Ideen seiner Menschen, für neue Anregungen und Beteiligungsformen.
Deshalb hat sich der Landtag Brandenburg vor einiger Zeit an der Konferenz zur Zukunft Europas beteiligt. Unser Ziel dabei war es, dass die deutschen Landesparlamente und andere Regionalvertretungen stärker in die europäischen Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Denn Europa lebt vom Engagement vor Ort. Die große Gemeinschaft ist nicht denkbar ohne ihre Regionen.

Anrede,

wer von Europa spricht in diesem Jahr, noch dazu hier im Landtag, kommt um einen kleinen Hinweis nicht herum: Am 9. Juni wird das EU-Parlament neu gewählt, die europäische Volksvertretung. Meine Bitte ist:

Nehmen Sie an dieser Wahl teil, nutzen Sie ihre Stimme – und sprechen Sie darüber auch mit Familienangehörigen, Freunden, Nachbarinnen, Kollegen. Europa, die Demokratie und auch Brandenburg im Herzen des Kontinents brauchen unseren Einsatz für das Miteinander.

Ich bedanke mich bei den Organisatoren der Ausstellung,
beim Ministerium der Finanzen und für Europa für die Unterstützung und
bei den Schülerinnen und Schülern des Friedrich-Gymnasiums in Luckenwalde für ihren künstlerischen Beitrag – ebenso wie bei den Choreografinnen Sophie Brunner und Kathrin Thiele.

Ihnen allen wünsche ich einen gelungenen Abend mit guten Gesprächen und interessanten Anregungen.

Herzlichen Dank!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Empfang für Präsidentinnen und Präsidenten der Landessozialgerichte im Landtag Brandenburg, 6. Mai 2024
Grußwort der Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke

Sehr geehrte Präsidentin Frau Schudoma,
Sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten der Landessozialgerichte,
sehr geehrte Abgeordnete,
lieber Jes Möller,
meine Damen und Herren,

ich heiße Sie herzlich willkommen zum Empfang hier im Brandenburger Landtag. Es ist mir eine große Freude,
Sie alle heute aus Anlass Ihrer Jahreskonferenz in Potsdam zu begrüßen.

Sozialer Frieden, soziale Gerechtigkeit, die Unantastbarkeit der Würde eines jeden einzelnen Menschen – das
sind Ihre Themen. Es sind u n s e r e Themen. Uns eint das Anliegen, dass Rechtssuchende bürgernah und
zeitnah gerichtlichen Rechtsschutz erfahren:

Nicht nur im Bereich der Existenzsicherung, beim Bürgergeld, der Sozialhilfe, beim Arbeitslosengeld, sondern
auch im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung oder des Sozialen Entschädigungsrechts.

Als Stichworte seien die Opferentschädigung bei Straftaten und das seit 2020 aktuelle Thema der
Entschädigung bei Impfschäden genannt. Ganz aktuell sorgt das Herrenberg-Urteil des Bundessozialgerichts
für Aufregung. Sprachschulen, Musikschulen, Ballett- und Tanzschulen, Volkshochschulen, Fachhochschulen,
Universitäten, Orchester mit freien Musikeraushilfen werden Honorarverträge in feste Verträge umwandeln
müssen, allerdings in der Realität nur in Mini- und Midi-Verträge ohne Rentenanspruch.

Ein gutes Urteil für Menschen in prekären Lebensverhältnissen, die zumeist studiert haben und täglich ihrer
Arbeit nachgehen. Ein schwer umsetzbares Urteil für Kommunen und private Bildungsträger, die mehr Geld in
die Hand nehmen oder Entgelte erhöhen müssen.

Sozialrichter wägen ab, Politiker beantworten bald die Frage, was ihnen kulturelle Bildung, Weiterbildung
oder die Vielfalt der universitären Lehre Wert ist.

Jetzt wird es konkret: Kein Kind darf in Deutschland in Armut aufwachsen. Der Alltag unserer Kinder muss frei
sein von den finanziellen Sorgen der Elternhäuser.

Kein Kind darf vom Fußballspielen oder Geige üben abgehalten werden, weil seine Eltern Fußballschuhe oder
den Musikunterricht nicht bezahlen können.

Eine Kindergrundsicherung, die Hilfen für Familien bündelt, ist sicher ein richtiger Weg. Viele Familien haben
das Recht auf diese Hilfen, aber nehmen sie nicht in Anspruch. Weil sie schlicht nichts davon wissen oder die
Verfahren zu kompliziert sind.

Der Bund möchte dies jetzt ändern. Das Motto lautet: Hilfe aus einer Hand statt Behördendschungel. Dies
sollte allerdings auch für den Rechtsweg gelten.

Unterschiedliche Rechtswege sind für einen bürgernahen und effektiven Rechtsschutz hinderlich. Der
Gesetzgeber sollte auf eine Rechtsprechung aus einer Hand achten.

Der Gesetzgeber hat auch für eine stabile Personalausstattung der Sozialgerichte zu sorgen, damit sie ihrer
Aufgabe in einer offenen Gesellschaft für Respekt und Toleranz und letztlich für Recht und Freiheit
nachkommen können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

am letzten Freitag wurde der sächsische SPD-Spitzenkandidat für die Europa-Wahl beim Aufhängen von
Wahlplakaten krankenhausreif geschlagen.
In Parlamenten diskutieren wir - auch vor dem Eindruck der kommenden Landtagswahlen im Herbst - die
Frage, ob und gegebenenfalls wie wir der Einstellung verfassungsfeindlicher Mitarbeiter in den Fraktionen
begegnen.

Lösungen können nur unter Wahrung der Fraktionsautonomie erarbeitet werden. Aber diese Lösungen
werden dringend gebraucht, auf der Straße und im Landtag.

Die Frage, wie die Parlamente frühzeitig und präventiv alle rechtlich zulässigen Maßnahmen ergreifen
können, um die Gesellschaft vor Verfassungsfeinden und Extremisten zu schützen, zeigt, dass die Demokratie
von ihren Feinden ins Visier genommen wird.
Aber nicht nur die Demokratie, sondern auch der Rechtsstaat, repräsentiert durch die Gerichte, muss auf
Angriffe von außen reagieren.

Reichsbürgerfantasien mit „Steckbrieflich“ gesuchten Staatsanwälten und Vorstehern von Finanzämtern in
Brandenburg, erreichen auch mich im Landtag.

Die Gerichte sind dabei nicht nur von außen, sondern auch von innen der Gefahr einer gezielten personellen
Unterwanderung von extremistischen, konkret verfassungsfeindlichen, Strömungen ausgesetzt. Die
Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit wird auch in unserem Plenarsaal von mindestens einer Fraktion
bestritten.

Sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene sind bereits Gesetze verkündet worden oder werden aktuell
noch verschiedene Gesetzesvorhaben mit Sicherungsmechanismen zur Gewährleistung der Verfassungstreue
auch der Richterinnen und Richter verfolgt.

Auf Ihrer Jahreskonferenz werden Sie sowohl für die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter wie auch
Berufsrichter und -richterinnen unterschiedliche Instrumente, Nutzen und Gefahren diskutieren. Mich
interessiert das Ergebnis ihrer Beratung. Über einen Austausch dazu würde ich mich freuen.

Im Kern bleibt die Herausforderung, den Zulauf zu extremistischen Parteien und Positionen als politisches
Problem zu erkennen und zu lösen. Wir brauchen dazu die sachliche parlamentarische Auseinandersetzung.
Die Existenz rechtspopulistischer Kräfte ist eine Fehlermeldung, die Demokraten verstehen müssen. Lassen
Sie uns einander aufmerksam zuhören und offen für Argumente bleiben. Dann führt gute Politik von
extremen Positionen weg, davon bin ich fest überzeugt.
Der heutige Empfang ist eine Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen, und ich freue mich auf
einen spannenden Austausch zwischen Politik und Rechtsstaat.

Für Ihre Jahreskonferenz wünsche ich Ihnen viel Erfolg!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Einbürgerungsfest 2024 am 21. April im Hans Otto Theater
Grußwort der Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke

Liebe Eingebürgerte, liebe Familien, liebe Kinder,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrter Herr Minister Stübgen,
sehr geehrte Frau Staatssekretärin Dr. Töpfer,
sehr geehrter Herr Staatssekretär Dr. Götz,
sehr geehrte Frau Integrationsbeauftragte Dr. Lemmermeier,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Kommunen und der Landesregierung!

„Wo ist Heimat? Gibt es Heimaten?
Vaterland? Mutterland? Oder Freundesland?
Geburtsland? Herkunftsland? Fluchtland?
Dazwischen ICH.
Mein Land. Meine Länder.
Meine Musik. Meine Musiken.
Mein Essen. Meine Essen.
Meine Sprache. Meine Sprachen.
Dazwischen: Meine Freunde und ICH.“

Mit diesen Gedanken begann ein Stück von mir für das Rheinsberger Deutsch-Arabische Kindermusiktheater, 10 Mal in Theatern und Turnhallen gespielt. Am Anfang lagen alle Darsteller auf der Bühne und suchten ihr Herkunftsland im Atlas, und sie suchten ihren neuen Heimatort in Brandenburg. Das waren oft weite Entfernungen.
Wo ist Afghanistan? Wo ist Tschetschenien? Wo ist Syrien? Wie fährt der Bus, der Zug, das Schiff? Wo muss man laufen?

Das 2. Bild im Theaterstück hieß „Allein“. Andere Kinder. Fremde Wörter. Geschlossene Türen. Eltern lernen auch. Schwein, nicht essen. Es ist viel zu kalt. Unter vielen Menschen kann man allein sein.

Neue Fragen tauchen auf, über die wir noch nicht nachgedacht hatten: wie ist das mit den Babys, den kleinen Geschwistern, die in Brandenburg geboren werden. Sind das Cottbuser, Neuruppiner, Potsdamer oder Syrer, Paschtunen, Usbeken, Ukrainer?
Und was willst du arbeiten in Brandenburg? Die Mutter sagt: Ärztin. Andere sagen das auch. Lehrerin wäre gut. Feuerwehrmann auch. Oder Pilot, Fußballprofi, Model, Polizist, Tierpflegerin, Busfahrer.

Der Busfahrer, ein achtjähriger syrischer Jungen, fuhr die Theaterkinder dahin, wo sie gerade hinfahren wollten. Zur Oma nach Odessa, zum Eiffelturm nach Paris, zum Eis essen nach Lindow. Am Ende des Theaters gab es ein Fest mit dem Publikum, Luftballons, Seifenblasen und endlich kamen die Omas und Tanten zu Besuch oder für immer.

Es hat viel Freude gemacht, mit den Kindern aus verschiedenen Kulturen Theater zu spielen, und ich habe noch nie in meinem Leben so viele Nutella-Brötchen für die Pausen zwischen Probe und Aufführung geschmiert. Wir hatten Spaß, die Erwachsenen im Theater wischten sich verstohlen Tränen aus den Augen. Manche hatten auch Heimaten.

Sie, liebe verehrte neue Brandenburger und Brandenburgerinnen, haben sich entschieden für Ihre zweite Heimat Brandenburg. Ihnen - vor allem - gilt mein Willkommen, und ich freue mich, dass so viele heute in das Hans Otto Theater nach Potsdam gekommen sind! Noch nie konnten wir so viele Gäste begrüßen: Mehr als 400! Da gerät selbst das große Theater, dem wir herzlich für die freundliche Aufnahme danken, an seine Grenzen.

Brandenburg hingegen hat noch viel Platz – es ist ein weites Land, liebens- und lebenswert. Das dachten sich offenbar auch die 2.500 Menschen, die hier im vergangenen Jahr die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben: Mehr als je zuvor seit der Jahrtausendwende.
Und doch stellen diese neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger nur ein Promille der Gesamtbevölkerung dar, ein Tausendstel. Das sei allen gesagt, die Zuwanderung grundsätzlich ablehnen oder eine Überforderung befürchten.

Integration ist ein komplexer Vorgang und nichts, das man erzwingen könnte.
Wie arm wäre unser Land, wenn alle den gleichen Dialekt sprechen würden, überall dasselbe Essen auf den Tisch käme, die Melodien und Tänze und Geschichten sich nicht unterscheiden würden!

Deshalb kann ich Sie, liebe Eingebürgerte, nur ermuntern: Lassen Sie sich voll und ganz auf Deutschland ein, auf Brandenburg und Ihr neues Umfeld; üben Sie die schwierige Sprache, lernen Sie Kollegen und Nachbarn kennen. Aber bewahren Sie sich bitte auch Ihre Besonderheiten, kulturell, geistig, auch kulinarisch. Und lassen Sie alle daran teilhaben. Unser Land wird durch Vielfalt stärker und reicher.

Noch einmal von ganzem Herzen und im Namen des Landtages, der Volksvertretung: Willkommen in Brandenburg!

Der Landtag, der ja auch Ihre Vertretung ist, wird in diesem Jahr neu gewählt. Am 22. September haben Sie die Möglichkeit, mit zu entscheiden, wer Sie und Ihre Region vertreten soll im Parlament. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie an dieser Wahl teilnehmen und Zukunft gestalten. Und vielleicht, wer weiß, bekommt die eine oder der andere von Ihnen einmal Lust, selbst für ein Mandat zu kandidieren – auf kommunaler Ebene, im Land oder im Bund oder in Europa für das dortige Parlament. Trauen Sie sich!

Die Demokratie kann nur leben und wachsen, wenn möglichst viele mitmachen und sich für sie einsetzen – egal, wo jemand geboren wurde, wie sie aussieht, was er glaubt. Demokratie heißt auch Vielfalt und Austausch. Brandenburg braucht Sie alle, und die Demokratie braucht Sie genauso!

Deutschland ist ein offenes, tolerantes Land. Das zeigt sich auch daran, dass von Juni an ein moderneres Staatsangehörigkeitsrecht gelten wird: Die Einbürgerung wird erleichtert und ist in der Regel dann schon nach fünf Jahren möglich, bei besonders schneller Integration bereits nach drei Jahren. Auch für Kinder wird es einfacher, Deutsche zu werden; das finde ich besonders wichtig.

Zugleich wird klar geregelt, dass rassistisches, antisemitisches oder menschenverachtendes Handeln nicht geduldet wird: Es verstößt gegen die Menschenwürde und schadet dem friedlichen Zusammenleben. Hass und Gewalt haben bei uns keinen Platz.

Jede und jeder ist berechtigt und aufgefordert, dagegen aufzustehen und einzuschreiten. Sicherlich: Es erfordert Mut, bei rassistischen Äußerungen in der Bahn, im Betrieb oder auf der Straße zu widersprechen, anderen in Bedrängnis zu helfen. Aber Zivilcourage im Alltag ist eine Säule der Demokratie, und in Brandenburg wird sie durch die Landesverfassung von 1992 unterstützt und untermauert.

Anrede,

Vor 250 Millionen Jahren, als die Verschiebung der Erdplatten noch nicht eingesetzt hatten, gab es nur den Superkontinent Pangäa, und Wasser außenherum. Ihre Heimaten lagen gar nicht weit auseinander. Das ist heute dank moderner Verkehrstechnik und Digitalisierung nicht anders.

Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Träume, Ihre Wünsche und Hoffnungen in Erfüllung gehen und wir gemeinsam dieses wunderbare Land gestalten und voranbringen können.

Nun wünsche ich Ihnen aber ein
schönes Fest, viel Vergnügen bei den Vorträgen, mit dem Chor „Local Vocals“ der Musik- und Kunstschule Havelland in Falkensee, und später der „4th ((fourth)) Man Group“ aus Berlin, die auf den Theaterterrassen aufspielen wird.
Auch an die Sängerinnen und Musiker geht mein Dank, wie an die vielen anderen, die am Gelingen dieses Festes beteiligt waren und sind.

Herzlichen Dank und alles Gute!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

25 Jahre Einsatz-Nachsorge-Teams Brandenburg (ENT)
am 13.04.2024 im Landtag Brandenburg
Grußwort der Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke

Sehr geehrter Herr Minister Stübgen,
liebe Mitglieder des Landtages Brandenburg Uwe Adler, Heiner Klemp und Matthias Stefke,
sehr geehrter Herr Polizeipräsident Oliver Stepien,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Polizei und des Inneressorts,
sehr geehrte Frau Landrätin Karina Dörk, sehr beehrter Herr Landrat Marko Köhler,
meine sehr verehrten DAMEN UND Herren!

Ein ganz herzliches Willkommen gilt besonders allen Kameradinnen und Kameraden, die heute stellvertretend für alle Helferinnen und Helfer des Einsatznachsorgeteams hier sind.
Besonders freue ich mich auch, so viele regionale Repräsentanten des Rettungsdienstes sowie des Brand- und Katastrophenschutzes im Landtag Brandenburg willkommen zu heißen.

24/7 Bereitschaft steht auf der Internetseite des ENT. Steffen Liss, der Koordinator schläft nie. Kann er auch nicht, weil immer etwas passieren kann. Er ist Feuerwehrmann im ENT. Da weiß man, dass immer etwas passieren kann. Ein schrecklicher Autounfall, tödlicher Strom, ein unverstandener Mensch, der keine Zukunft für sich sah. Immer ist es schlimm, immer tut es jemandem weh, immer wird Hilfe gebraucht, dringend. Manchmal war auch nur jemand zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Banale Weisheit, aber lebensgefährlich.

Am Unfallort treffen Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr aufeinander, arbeiten m i t einander. Von der schnell getroffenen richtigen Entscheidung, vom richtigen Handgriff zur rechten Zeit, vom Ineinandergreifen aller Maßnahmen hängt alles ab. Dafür gab es Schulungen und Übungen. Die Realität sieht oft anders aus und sie arbeitet im Kopf weiter. Beim Einsatz-Nachsorge-Team geht es nicht um Rettung in Not, es geht um Rettung der Helfer, die im Einsatz in Not geraten sind. Wie verarbeitet man Unvorhersehbares, Unverständliches, Ungerechtes? Am schlimmsten ist es, wenn Kinder betroffen sind.

Rettungsdienst und Polizei sind im Einsatz, zu festen Dienstzeiten, an verschiedenen Orten. Feuerwehrleute rücken vor Ort aus, im Umkreis ihres Feuerwehrhauses, im Umkreis ihres Dorfes, ihrer Stadt. Man kennt sich vor Ort. Nicht selten sind Verunfallte gute Bekannte oder

gar Mitglieder der eigenen Familie, entfernt oder ganz nah. Helden tragen Feuerwehrhelme. Sie sind ehrenamtlich tätig, eine Berufung. Nachts aufstehen, den Familienausflug absagen oder beim Geburtstag nicht dabei sein ist normal.

 

Nach einem Feuerwehreinsatz mit Brandlöschung gibt es ein Bier, wohlverdient. Beim ENT ist das anders. Wenn das ENT gerufen wird, gab es nicht immer Rettung. Das ENT wird gerufen, wenn Herz und Seele leiden. Das ENT weiß, wie ein Gespräch beginnen kann, stellt die richtigen Fragen, hört zu, die Ereignisse unterscheiden sich, aber das Leid ist ähnlich. Das Gespräch ist erst zu Ende, wenn der am Unfallort beteiligte Feuerwehrmann oder die Feuerwehrfrau einen neuen Anfang im eigenen Leben sieht. Das kann dauern, da ist der Familienausflug vorbei und der Geburtstagskuchen zu Hause aufgegessen. Aber jeder, der das ENT angerufen hat, wird sagen: Die sind gekommen. Schnell waren sie da. Und jeder von ihnen hat eigene Erfahrungen und eigenes Wissen mitgebracht, einer von uns, eine von uns. Das ist anders als wenn ein Polizist helfen will oder ein seelsorgender Pfarrer spricht. Das ENT gehört zu den Unfällen und schrecklichen Ereignissen im Nachgang dazu. Jeder erinnert sich an dieses erste Gespräch danach. Ganz wichtig.

Nun gibt es das ENT schon seit 25 Jahren. Ich freue mich sehr, dass es Sie gibt. Gern habe ich diese Schirmherrschaft für Sie übernommen, voller Hochachtung, Respekt und Demut. Ich weiß nicht, ob ich leisten könnte, was Sie leisten. Zu ihrem Jubiläum möchte ich Ihnen von Herzen gratulieren.

Hinter Ihnen, hinter dem Einsatz-Nachsorge Team Brandenburg mit Polizisten, Rettungsdienstlern und Feuerwehrleuten, Haupt- und Nebenamtlern und den Ehrenamtlichen liegen 25 Jahre, in denen Sie als Team eine wertvolle Hilfe waren für Helferinnen und Helfer am Unfallort. Immer können die Helfer und Helferinnen auf Sie zählen.

Sie helfen, doch wer (oder was) hilft Ihnen?
Das frag ich mich, wenn Anfragen bei Herrn Liss eintreffen und ich bei ihm im Auto sitze, Namen und Telefonnummern notiere. Wie macht er das? Familienvater, oft werden die Arbeitstage lang, Feuerwehrmann, 24/7 Bereitschaft wie alle seine Team-Kollegen, die er anruft und die spontan zusagen. „Ja, ich fahre sofort los.“ „Ja, gleich versorgt meine Frau die Kinder, dann kann ich kommen.“ „Ja, schick mir noch mal die genaue Adresse, ich war da noch nie.“ So unkompliziert, unbürokratisch, Sie helfen eben. Sie sind Helfer aus verschiedenen Berufen, die Feuerwehr eint sie. Bei der Feuerwehr haben sie schon viel erlebt. Zuhören, beraten, verarbeiten, um zu entlasten.

„Geteiltes Leid ist halbes Leid“, sagt man gemeinhin – Sie wissen ganz besonders, wie viel Wahres in dieser Redewendung steckt. Shakespeare schrieb:

„Wer einsam duldet, fühlt die tiefste Pein,
Fern jeder Lust, trägt er den Schmerz allein:
Doch kann das Herz viel Leiden überwinden,
Wenn sich zur Qual und Not Genossen finden.“

Liebes ENT,

Was Sie tun, ist Helfen, um zu leben. Das, was Peter Sachse und Susanne Deimling initiiert haben, wuchs zusammen zu dem großartigen Team, dass Sie heute sind. Fast auf den Tag genau – seit dem 1. April 1999 - 25 lange Jahre. Sie haben die Einsätze nicht gezählt, darum geht es nicht. Sie kümmern sich um die zunächst „unsichtbare Belastung“, die mentale und seelische Last der Einsätze, die neben der offensichtlichen körperlichen Belastung existiert. Das lässt sich nicht in Zahlen ausrechnen. Bilder bleiben im Kopf.

Zu den ersten Einsätzen des ENT Brandenburg gehörte die Betreuung der Kollegen der Feuerwehr Frankfurt (Oder) - ein Todesfall, als ein Kollege beim Arbeiten mit der Drehleiter verunglückte. Das üben Feuerwehrleute, das können sie und trotzdem passierte es.
Jahr für Jahr folgten viele weitere Einsätze. Jeder davon brachte seinen eigenen Schrecken, seinen eigenen Schmerz mit sich.

Als 2017 zwei Polizisten von einem flüchtigen Täter auf der B 87 getötet wurden, betreute das ENT Brandenburg in 16 Nachsorge-Einsätzen Kollegen von Polizei und Feuerwehr. Solche Einsätze, in denen Kolleginnen oder Kollegen getötet werden, wiegen unendlich schwer.

Ganz unabhängig davon, wie gut ausgebildet oder erfahren jemand sein mag: Es hinterlässt Spuren, Menschen in Notsituationen, zu sehen, zu hören, ihnen zu helfen. Es hinterlässt Spuren, diese extremen seelischen Belastungen von außergewöhnlichen Ereignissen auf sich zu nehmen. Ob im Einsatz oder in der Einsatznachsorge: Sie alle stellen sich dieser hohen Anforderung, die nie selbstverständlich wird, nie leicht zu bewältigen ist.

Das ENT Brandenburg kann das Geschehene nicht verändern. Aber es kann bei der Verarbeitung helfen und damit die mentale Gesundheit wiederherstellen. Dank des ENT ist niemand mit seinen Gedanken, seinen Problemen alleine. Es nimmt die Lasten und stellt Gleichgewicht her. Diese Arbeit verlangt Ihnen viel ab. Es braucht ein besonderes Vertrauen, Verschwiegenheit und die besondere Fähigkeit, auch abschalten zu können. Der Arbeitsumfang ist riesig, gerade bei Großeinsätzen.

Die Möglichkeiten einer ehrenamtlichen Tätigkeit sind jedoch begrenzt. 2021 wurde das ENT beim Innenministerium des Landes Brandenburg eingegliedert. Das ist gut, aber die Arbeitsbedingungen der Feuerwehrleute im ENT müssen wir gemeinsam verbessern: Polizisten im ENT arbeiten im Nebenamt mit Stundenausgleich, Feuerwehrleute und Rettungsdienstler im ENT ehrenamtlich unbezahlt. Die Feuerwehrleute und Rettungsdienstler arbeiten also für den Öffentlichen Dienst in Land und Kommunen, aber nur sie im Ehrenamt unbezahlt. Diese ENT-Zusammenstellung ist einzigartig in Deutschland. Hauptamt, Nebenamt, Ehrenamt – all das ist im ENT Brandenburg vertreten. Gewiss ist es eine Herausforderung für das ENT, Rettungskräfte unterschiedlicher Bereiche unter einen Hut zu bringen, allen gerecht zu werden. Aber es macht einen Unterschied, ob jemand in der Berufspolizei oder Berufsfeuerwehr ist, ob man feste Arbeitszeiten, einen festen Rahmen hat, oder ob man zu den freiwilligen Einsatzkräften gehört, die ihr Privatleben in der Sekunde hinter sich lassen, in der der Pieper ertönt. Sie stellen sich selbstlos diesem Gewissenskonflikt - und das ist alles andere als selbstverständlich.
Wichtig ist es, dass die Mitglieder des ENT gleichberechtigt und gleichbehandelt unterstützt werden. Wichtig ist auch, dass Feuerwehrleute von Feuerwehrleuten beraten werden können.

Die Unterstützung und Wertschätzung des Ehrenamtes, ist mir ein besonderes Anliegen. Das ENT gehört zum Brand- und Katastrophenschutz, Arbeitsbefreiungen vom Arbeitgeber oder Zeitausgleich werden im ENT nicht gewährt. Beim Rettungsdienst nur selten, obwohl es im Gesetz verankert ist. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, Arbeitgeber zu sensibilisieren für die wichtige und unaufschiebbare Tätigkeit des ENT, das landesweit und oft über weite Anfahrtswege unterwegs ist. Auf der Homepage des Innenministerius wird das ENT beworben mit dem Slogan: „24/7 für Sie einsatzbereit,“ dazu die Rufumleitung zu einem Ehrenamtler, unbezahlt. Wir können nicht nur feiern und würdigen, wir müssen auch Arbeitsbedingungen ändern, wenn sie nicht gut sind.

Liebe Mitglieder des ENT,
der allgemeine Trost „Das gehört dazu“ / „Sieh zu, wie du klarkommst“, gilt in Brandenburg nicht mehr. Er ist zu einem „Du bist nicht allein“ / „Ich höre dir zu“ geworden. Sie geben der mentalen Gesundheit die Aufmerksamkeit, die sie benötigt.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihr Hilfsangebot weiterentwickeln und noch bekannter machen können. Es ist wichtig, Menschen für dieses Thema zu sensibilisieren. Es kann schwer sein, offen über Erlebtes und das eigene Seelenleben zu sprechen. Doch das ist der Punkt, an dem Sie helfen können.
Die Ausbildung der Teams, Fortbildungen, ein regelmäßiger Austausch und Gespräche, die Verfestigung von Standards und Strukturen, Öffentlichkeitsarbeit – auch das gehört neben den vielfältigen Einsätzen zu Ihrer Arbeit. Und dafür bleibt Ihnen kaum Zeit. Hier brauchen Sie Hilfe, und die Gesellschaft muss sie für Sie leisten.

Sie können stolz sein auf das, was Sie leisten. Ihre großartige Arbeit ist unbeschreiblich wertvoll für sehr viele Menschen – nicht nur für Einsatzkräfte, sondern auch für deren Angehörige.

Sie sind hilfsbereit, zuverlässig, leben die Kameradschaft. Sie können aufeinander zählen. Diese Werte brauchen wir. Ihnen gebühren Dank und Wertschätzung dafür, dass Sie sich den Herausforderungen für die eigene physische und mentale Gesundheit stellen, um anderen Menschen zu helfen. Sie bringen die Stärke auf, diese Aufgabe, diese Verantwortung zu tragen. Ich möchte Sie dazu ermutigen, trotz schwerwiegender Erlebnisse weiterzumachen.
Sie bereichern das Leben der beteiligten Menschen und damit auch Brandenburg durch Ihre Arbeit. Wir brauchen Sie.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Jubiläumsfest und dass Sie die Stärke Ihres Teamgeistes auch in Zukunft durch Höhen und Tiefen trägt. Heute können Sie feiern!

Vielen Dank!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Grußwort von Landtagspräsidentin Prof. Dr. Liedtke anlässlich der Immatrikulationsfeier der Medizinischen Hochschule Brandenburg
am 05. April 2024, Kulturkirche Neuruppin

Sehr geehrter Herr Präsident Prof. Hans-Uwe Simon,
sehr geehrter Kanzler Dr. Gerrit Fleige,
liebe Lehrkräfte, Eltern und Freunde,
liebe zukünftige Studierende!

Nein, Sie haben sich nicht für eine alte, traditonsbeladene Universität entschieden, sondern für eine ganz junge, moderne, innovative Ausbildung.
Die Würzburger Universität blickt auf eine 600jährige Geschichte zurück mit Medizin, Theologie und Jurisprudenz, die MHB gerade mal auf 10 Jahre Allgemeinmedizin, Psychologie und ab morgen auch Zahnmedizin.
Die Universitäten Freiburg und Heidelberg geben damit an, als erste ab 1900 Frauen zum Medizinstudium zugelassen zu haben, das hat die MHB natürlich von Anfang an.

Aber warum Neuruppin?
Weil es eine kleine Stadt ohne Ablenkung ist, bestens geeignet für konzentriertes Arbeiten.
Weil der See zur Erfrischung zwischendurch einlädt und das Eis sehr gut schmeckt.
Weil die Brandenburger und Brandenburgerinnen ihr Herz nicht auf der Zunge tragen, ihre Studierenden nicht stören, sondern einfach nur stolz auf sie sind.
Jetzt müsste ich noch Ihre Fontane-Kenntnisse anmahnen, die brauchen Sie hier, beginnen Sie mit den „Wanderungen durch die Mark“, dann kennen Sie gleich die Urlaubsorte rundherum. Und bitte die Denkmäler von Fontane, Schinkel und Möhring fein auseinanderhalten. Das schaffen Sie, wenn Sie mit offenen Augen Ostprignitz-Ruppin und die Menschen erkunden.

Das Besondere an Ihrer Universität aber ist ihr Konzept, die Verbindung von akademischer Ausbildung und praktischer Behandlung am Patienten. Ihr Studium an der MHB wird praxisorientiert von rund 30 kooperierenden Kliniken und rund 320 Lehrpraxen im ganzen Land Brandenburg unterstützt.
Ich kann es mir besser nicht vorstellen!
Dieses besondere Konzept hatte ein Rheinsberger Konzertbesucher im Kopf.
Es ist bestimmt schon gut 25 Jahre her, als Prof. Nürnberg mir von einer künftigen Universität für Medizin in Neuruppin vorschwärmte. In Neuruppin! Ich hatte gerade die Musikakademie in Rheinsberg aufgebaut, die letzten Bauberatungen zum Wiederaufbau des Schlosstheaters überstanden und wollte ehrlich gesagt von Anträgen, Genehmigungsverfahren und Stempeln jeglicher Art nichts wissen.
Aber mein Konzertbesucher blieb hartnäckig und mutig, veranstaltete Weiterbildungen für Mediziner in meinem Haus und war sich unglaublich sicher, dass eine Universität nach Neuruppin gehört. 2014 wurde Prof. Dr. Dieter Nürnberg zum Gründungsdekan der MHB ernannt. Im November 2014 startete die Frist zur Bewerbung um einen der 48 erstmals zu vergebenden Studienplätze für Medizin, staatlich anerkannt ab 8. Juli 2014. Mit Stempel also.

Sie gehören nun zu den 949 Studierenden, die in diesem Sommersemester an der MHB immatrikuliert sind.
Sie sind rund 130 neue Studierende, davon 69 in der Medizin, rund 40 in der Psychologie im ersten Bachelor-Semester (davon 30 im neuen Hybrid-Format), 5 Psychologiestudierende als Quereinsteiger in höhere Fachsemester und 17 Masterstudierende in der Psychologie. Morgen werden zudem die ersten 48 Studierenden in der Zahnmedizin in Brandenburg an der Havel immatrikuliert.

Sie werden im Land Brandenburg dringend gebraucht, vielleicht bleiben Sie ja – wegen See und Eis, den Orten und Menschen.
Sie und die MHB haben sich füreinander entscheiden. Übergänge sind immer anstrengend – das nicht- mehr und noch-nicht, der Umzug in neue Lebensumstände.
Heute gehen Sie mit Ihrer Immatrikulationsfeier den entscheidenden Schritt zu einer neuen Zeit in Ihrem Leben.
Hierzu gratuliere ich Ihnen ganz herzlich.

Sie werden sehen, dass vieles erlernbar ist, dass man sich in der Theorie auf zahlreiche Situationen vorbereiten kann. Doch die Realität, Ihre neue Realität am Menschen, mag dann noch einmal ganz anders aussehen. Sie werden Ihr Bestes geben, wenn Sie Fragen von Patienten und Patientinnen zum ersten Mal hören, überhaupt vieles zum ersten Mal erleben. Auch das mag eine Übergangsphase sein, die Unvorhersehbares mit sich bringt. Nicht immer werden Sie helfen können, an Grenzen stoßen, nicht verstehen, was passiert. Nicht nur Patienten leiden, auch der Arzt kann verzweifeln und Hilfe brauchen.
Dennoch werden sich die Menschen auf Sie, auf Ihr Wissen und Ihre Fähigkeiten verlassen. Und das können Sie auch.

Die MHB kann auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Natürlich gab es Skeptiker, natürlich gab es Bedenken, was sagen Sie dem Konzertbesucher, der in Neuruppin eine Universität gründen will?
Die positive Entwicklung gibt all jenen recht, die an die MHB geglaubt und sie unterstützt haben. Inzwischen können rund 300 Studierende der Psychologie im Bachelor und im Master einen Neuruppiner Abschluss vorweisen. In der Medizin schlossen etwa 120 an der MHB ausgebildete Ärztinnen und Ärzte ihr Studium erfolgreich ab. Fast die Hälfte davon hat sich für die Arbeit an einer kooperierenden Klinik im Land Brandenburg entschieden. Der Bleibeeffekt, auf den die Gründer gehofft haben, ist eingetreten. Die MHB wird gemeinsam mit ihren Studierenden weiter wachsen.

Auch heute gibt es offene Fragen und Herausforderungen, die für Verunsicherung sorgen können, zum Beispiel die Krankenhausreform des Bundes, die ja eigentlich viel Gutes will. Leider krankt es an der Umsetzung.
Vorhaltepauschalen statt Fallpauschalen, die Steigerung der Behandlungsqualität, weniger Bürokratie, Versorgungssicherheit, Existenzgarantien, Transparenz - das sind gute, wichtige Ziele. Doch bis es so weit ist, bis der Übergang geschafft ist, bleibt es anstrengend. Wir werden gemeinsam an der Umsetzung arbeiten.

Auf Reformen und Veränderungen trifft man in so ziemlich allen Bereichen des Lebens und unserer Gesellschaft: von den großen Themen Frieden und Klima bis zu Digitalisierung, Infrastruktur oder Wirtschaftsansiedelung. Und alles auf einmal und schnell. Von den Unsicherheiten eines Übergangs ist auch die Klinik hier in Neuruppin betroffen. In ihrer finanziellen Notlage springt der Landkreis ein, sodass die Abteilungen HNO und Gesichtschirurgie weiterhin existieren können. Eine Übergangslösung.

Die MHB erhält gegenwärtig vom Land Brandenburg zwei Förderungen im Umfang von insgesamt 6,6 Mio. Euro im Jahr. Davon sind 5 Mio. Euro für die Stärkung der Forschungsleistungen zum Erreichen der Akkreditierung vorgesehen, die Zahlung ist auch 2025 und 2026 weiter geplant. 1,6 Mio konnte ich per Parlamentsbeschluss zusätzlich in der vorigen Legislaturperiode durchsetzen. Sie stehen lt. Mittelfristiger Finanzplanung weiter zur Verfügung. Am 22. September wird in Brandenburg gewählt, erst danach kann der Landtag weitere Beschlüsse fassen. Ich bin ganz sicher, dass die MHB – nicht zuletzt dank Ihres Vorlaufs gegenüber der staatlichen Medizinerausbildung in der Lausitz – weiterhin Landesförderung erhält. Nach dem „Letter of intent“ zwischen MHB und Lausitz bin ich guter Dinge und hoffe auf ein kooperatives, freundschaftliches Verhältnis und eine gemeinsame Erfolgsgeschichte für das Land Brandenburg.

Liebe Studierende,
Ich wünsche Ihnen Freude am Lernen, eine erfüllende, ereignisreiche Zeit, die die Weichen für Ihr weiteres Leben stellt. Es wird eine Zeit, in der Sie nicht nur fachlich lernen, sondern auch viel über sich selbst erfahren werden.

Ich wünsche Ihnen Freude in der Zeit des Ausprobierens, des Wachsens. Ich bin mir sicher, dass Sie für Ihre Mühen belohnt werden. Menschen helfen zu können, ist eine ganz besondere Freude.

Die 10jährige MHB gehört fest in die Ausbildungslandschaft Brandenburgs und hat sich ihre Landesförderung schwer erarbeitet und verdient. Ich durfte die ganze Entwicklung vor Ort verfolgen und freue mich mit jedem Arzt und jeder Ärztin. Das macht Mut und Fontane behält wieder einmal recht: „Am Mute hängt der Erfolg.“

Danke!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

1774 und 2024 im Rheinsberger THEATER
Festvortrag 250 Jahre Schlosstheater Rheinsberg, 27. März 2024
Veranstaltung der Kammeroper Schloss Rheinsberg, Spiegelsaal Schloss Rheinsberg

Prof. Dr. Ulrike Liedtke, Präsidentin des Landtages Brandenburg

Musikalisch umrahmt von: Wolfgang Amadeus Mozart
8 Variationen für Klavier über „Dieu d’amouraus“ der Oper „Le marriage d samnites« von André-Modeste Gretry, KV 352 und 12 Variationen für Klavier über „Je suis Lindor“ aus der Oper „Le Barbier de Seville“ von Antoine-Laurent Baudron nach Pierre Caronte de Beaumarchais gleichnamigen Schauspiel, KV 354

Hansol Cho, Hammerklavier

Exzellenz, lieber Dariusz Pawlós, Botschafter der Republik Polen, ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre hohe Wertschätzung der Rheinsberger Kultur durch Ihren Besuch!
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident von Sachsen, lieber Dr. Matthias Rösler!
Lieber Prof. Georg Quander, der heutige Opernimpresario in Rheinsberg und Regisseur der „Iphigenie in Aulis“, die in 2 Tagen Premiere hat,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Es ist mir eine hohe Ehre, diesen Festvortrag halten und Sie mitnehmen zu dürfen in die Welt der Iphigenie und des Theaters bei Prinz Heinrich, in die Zeit des Wiederaufbaus zum Schlosstheater Rheinsberg und mitten hinein in neue Aufführungen, verbunden mit dem Dank an alle, die dabei waren und sind.

Sieben Gedanken. Erster Gedanke

Im März 2024 steht auf dem Spielplan Iphigenie in Aulis – uraufgeführt in Paris unter der Leitung des Komponisten Christoph Willibald Gluck, genau 1774, im Jahr der Eröffnung des Rheinsberger Theaters. Iphigenie in Aulis stand mehrfach auf dem Rheinsberger Spielplan. Auch Iphigenie auf Tauris 1783 und später Alceste 1787, wahrscheinlich auch Armide, alles Gluck.

Sechs neue Opern sah der Vertrag zwischen der Pariser Oper und Gluck vor, Marie Antoinette, Glucks ehemalige Gesangsschülerin in Wien, hatte vermittelt. Noch beherrschte die italienische Seria das Repertoire, auch die hatte Gluck schon mehrfach komponiert in Rom und London, für Dresden, Stuttgart und immer wieder in Wien.

Iphigénie en Aulide war die erste der neuen Opern für Paris (1774), danach kamen Orphée et Eurydice (1774) und Alceste (1776), beides Bearbeitungen vorheriger Wiener Fassungen, Armide (1777), dann Iphigénie en Tauride (1779) und schließlich noch Écho et Narcisse (1779).

Johann Abraham Peter Schulz, Komponist zahlreicher heute noch bekannter Lieder1 wie „Der Mond ist aufgegangen“ oder „Ihr Kinderlein kommet“ rühmte sich, „a l l e Gluck-Opern“ in seinen Rheinsberger Jahren aufgeführt und damit ein wahres „Gluckfieber“ entfacht zu haben.2 Er neigte zur Übertreibung, von Gluck liegen gut 50 Opern vor, aber wer weiß, denn das Rheinsberger Repertoire ist ja nicht vollständig überliefert.

Gluck widmete die Partitur der Iphigénie en Aulide Ludwig XVI., dem späteren Ehemann seiner Wiener Gesangsschülerin. Das Publikum der Uraufführung reagierte überfordert, ab der folgenden Aufführung teilte es sich in zwei Lager und scheute keine Tumulte im Theater: die Gluckisten einerseits, die Piccinisten andererseits, die Tragédie lyrique oder die Opera seria, Marie Antoinette oder die Mätresse Dubarry, höfisches oder bürgerliches Theater, die Tradition von Lully und Rameau gegen den Librettisten des Italieners Piccinni, wohlgemerkt: der Librettist, denn die Komponisten Gluck und Piccinni beteiligten sich selbst nicht an diesem schon 20 Jahre zuvor geführten und wieder aufgeflammten Streit über den Vorrang der italienischen oder französischen Oper. Mit Abstand betrachtet reformierten beide die Oper, auch Piccinni, nur - Gluck hat es aufgeschrieben.

 

In der „Vorrede“ zur Alkeste-Partitur-Ausgabe von 1769 legte er seine Grundsätze der neuen Oper nieder. Die Oper sei

„von all den Mißbräuchen freizuhalten, die, eingeführt teils durch die übel angebrachte Eitelkeit der Sänger, teils durch die allzu große Gefälligkeit des Komponisten, die die italienische Oper schon so lange Zeit entstellen und das prächtigste und schönste Schauspiel in das lächerlichste und langweiligste verkehren.“ Musik habe wieder „der Dichtung in ihrem Ausdruck“ zu dienen ohne die Handlung zu unterbrechen, ohne unnütze und überflüssige Verzierungen, kein Darsteller müsse „in der größten Hitze des Dialogs […] ein langweiliges Ritornell abwarten,“ Gluck wolle ihn nicht „mitten im Wort auf einem gutliegenden Vokal festhalten, oder ihm Gelegenheit geben, in einer längeren Passage die Beweglichkeit seiner schönen Stimme zur Schau zu stellen, oder ihm durch ein Orchesterzwischenspiel eine Atempause für eine Kadenz“ liefern. Er „hielt es nicht für notwendig, über den zweiten Teil einer Arie, den vielleicht leidenschaftlichsten und wichtigsten, schnell hinwegzugehen, um die Gelegenheit zu haben, die Worte des ersten Teils nach der Regel viermal zu wiederholen, um die Arie dort zu beenden, wo sie vielleicht dem Sinn nach nicht schließt.“ Darüber hinaus solle die Ouvertüre auf die darzustellende Handlung vorbereiten, Arie und Rezitativ könnten ineinander übergehen, auf Moralsprüche müsse man zugunsten der „Sprache des Herzens verzichten.“ 3

Das war radikal. Gluck wusste, dass seine Opern die bisherige Praxis umstoßen würden und so erbat er mit seiner Vorrede an Peter Leopold, Großherzog von Toskana und späterer Kaiser Leopold II., dessen Schutz und Gnade für sein Vorgehen.

Etwas Neues gibt es also mit Gluck-Opern in Rheinsberg, noch lange nicht in Berlin. Richard Wagner wird später begeistert die Iphigenie in Aulis für Dresden bearbeiten, Richard Strauss die Iphigenie auf Tauris für Weimar, beides muss man nicht spielen, Gluck im Original ist stärker.

Keine Primadonnen, Kastraten-Partien singen jetzt Tenöre, kein Starkult, stattdessen fühlende Menschen auf der Bühne, unmaskiert. Der Chor sympathisiert mit Iphigenie, das Ballett – unverzichtbar in französischer Oper – gehört zur Handlung. Einfachheit, Wahrheit, Natürlichkeit – ein Programm für das Rheinsberger THEATER, für die Opern der Aufklärung und für Wolfgang Amadeus Mozart.

 

Kurz vor der französischen Revolution bevölkern antike Gestalten die Bühne, auch den Park, das Rheinsberger Schloss. Bis heute. 250 Jahre alte Oper, Opernstoff von vor 2.500 Jahren. Iphigenie als Anlass zum Nachdenken über Gewalt, Schuld, Gewissen, Sühne, Vergebung, Verhandelbarkeit ethischer Maßstäbe, humanistisches Ideal, und letztlich Opfer für das Vaterland, für die Familie, für die Liebe. Bei Euripides als Tragödie, in der Sichtweise von Racine, auf den sich Glucks Librettist Bailli Le Blanc du Roullet stützt, immerhin mit göttlicher Rettung. (Übrigens war du Roullet Diplomat, Exzellenz, keine schlechte Aussicht, als Librettist in die Operngeschichte einzugehen.)

Es geht um Krieg, um Wind und Wetter. Denn die Kriegsflotte des Agamemnon liegt bei Windstille vor Aulis fest. Agamemnon hatte einen heiligen Hirsch erlegt und auch noch damit geprahlt, was die Göttin der Jagd verärgern musste. Göttinnen in der Antike sind bestens emanzipiert und wissen das einzusetzen. Also: Rache und Vergeltung für einen Hirsch, in der Literatur manchmal eine Hirschkuh. Wie auch immer - kein Wind für die Flotte nach Troja.

Iphigenies Vater Agamemnons führt die Flotte mit 50 Schiffen an, 12 davon sollen von Odysseus gewesen sein, auch ein ehemaliger Freier der schönen griechischen Helena. Der trojanische Königssohn Paris hatte sie geraubt, sie liebte diesen Feind und Gluck komponierte seine Oper Paris und Helena. Das ist die Vorgeschichte, weswegen die Flotte überhaupt unterwegs ist, um ihrerseits Rache und Vergeltung gegenüber Troja zu üben.

Klytämnestra, Schwester der schönen Helena und Iphigenies Mutter, begleitet Iphigenie nach Aulis zur eingefädelten Verlobung. Diese List soll lt. einigen Schriften wieder Odysseus ersonnen haben, um Iphigenie nach Aulis zu bringen, ganz und gar kein aufrichtiger Held wie in heutigen Comics. Bei Euripides kommt er auch gar nicht erst vor, eine andere Geschichte.

Im Mittelpunkt der Oper steht Agamemnon, König von Mykene, das heute UNESCO-Weltkulturerbe in Griechenland ist. Agamemnon, der seine Frau Klytämnestra erobert hatte, indem er ihren Mann erschlug und ihr Kind zweiteilte. Dieser Gewalttäter hat in Iphigenie in Aulis als Vater zu entscheiden, ob er seine Tochter Iphigenie der Göttin opfert, damit sie Wind aufkommen lässt. So sagt es der Seher Kalchas, von wem auch immer er gekauft worden war. Wem kann man noch glauben. Es ist Krieg. Agamemnon ist bereit, seine Tochter Iphigenie zu opfern.

Gluck versucht wirklich alles, ihm menschliche Züge abzuverlangen. Ja, er schafft es, mit ihm zu leiden. Agamemnon und Klytämnestra kriegen die gigantischsten Szenen auf den Leib komponiert, dramatischer als Agamemnons Qual am Ende des 2. Aktes geht es nicht, „Iphigenie mein Kind.“ Eine Szene wie in Mozarts Don Giovanni vor dem Komtur.

Agamemnon und Klytämnestra als liebende Eltern, er Bruder des ersten Mannes der schönen Helena und sie Schwester der schönen Helena, bestimmt auch schön, Helena als Trauma. Was wird aus Kindern solcher Eltern: Iphigenie und ihren Geschwistern Orest, Elektra, Chrysothemis? Sie ahnen es schon: Opernstoffe.

Schiller übersetzte die Iphigenie in Aulis, die sich opfern möchte für die Griechen und gegen die Trojaner. Nicht von ungefähr handelt es sich bei Trojanern heute um Computerschadprogramme, Zerstörer. Troja ist nicht mehr auffindbar, vermutet auf dem Gebiet Kleinasiens, in der Türkei. Der von mir sehr verehrte Antike-Erzähler Michael Köhlmeier sagt dazu nur einen schwergewichtigen Satz:

„Der Trojanische Krieg war für die Antike der Inbegriff des Krieges – vielleicht ist er der Inbegriff des Krieges im Abendland.“4

 

 

Und an anderer Stelle:

„Die Griechen plünderten die Stadt. Sie sprengten die letzten Hausreste, und so verließen sie nach zehn Jahren das vorher blühende Troja, fuhren zurück nach Hause, nach Griechenland. Fuhren zurück in ihre Städte, wo ihre Frauen sich entweder schon andere Männer genommen hatten oder wo sie, wie Agamemnon, von ihren Frauen erschlagen wurden.“5

Die Autoren der letzten hundert Jahre kamen immer wieder auf diesen Euripides zurück: Gerhard Hauptmann, Bertold Brecht, Friedrich Dürrenmatt, Franz Fühmann, Jean Giraudoux, Jean Anouilh, Eugene O‘Neill und - übermorgen Mitwirkende und Premierenbesucher der Iphigenie in Aulis im Schlosstheater Rheinsberg.

Die 2. Iphigenie unter den Gluck-Opern, wie gesagt auch in Rheinsberg gespielt Ende des 18. Jahrhunderts und im Prinz-Heinrich-Jahr 2002 als Iphigenie auf Tauris oder Prinz Heinrich inszeniert eine Oper mit Monolog und Gluck-Musik der Kammeroper, spielt bei den Taurern, nach dem Trojanischen Krieg, und die Forscher vermuten, Tauris war die Halbinsel Krim. Hier hat Iphigenie als Priesterin dafür zu sorgen, dass alle Fremdlinge auf der Insel Tauris umgebracht werden, weil sie laut Orakel - heute Social Media - eine Gefahr für den König darstellen. Einer der Fremden ist dann ihr Bruder Orest. Was für ein Stoff! Auch Goethe dramatisierte ihn.

Iphigenie, eine Frau als Opfer, selbst nicht aktiv, soll verlobt werden, soll geopfert und gerettet werden. Vor dem Vater, vor dem unbekannten Verlobten, vor Krieg und Tod. Natürlich singt sie bei Gluck traurig-schön, fast schon wie Pamina bei Mozart, und sie liebt diesen Verlobten tatsächlich. Die Autorin und Psychologin Joanna Bednarszyk und Regisseurin Ewelina Marciniak untersuchten 2022 bei den Salzburger Festspielen die Widersprüchlichkeit der Iphigenie6 nach Anzeichen für Metoo. Wieviel selbstbestimmter agieren doch Glucks Alkeste, Pergolesis Magd als Herrin, Paisiellos schöne Müllerin, Piccinnis gute Gärtnerin Cecchina oder später Susannchen bei Mozart.

KI ermöglicht es heute, mit literarischen Figuren in Dialog zu treten. Wie sieht Euripides seine Iphigenie, als Opfer oder als Heldin? Vermutlich weicht der Dichter aus und redet über seine Freundschaft zu Sokrates. Oder wie er sein Denkmal findet, das heute im Louvre steht, aus dem 2. Jahrhundert. Da sitzt er in vielen Falten griechischen Stoffes, hinter ihm eingemeißelt 90 Titel seiner Tragödien, 18 sind erhalten, auch Medea, Elektra, Iphigenie. Alles Opernstoffe. Weniger für Mozart, aber für die Komponisten vor und nach ihm in Rheinsberg.

Und was würde Iphigenie als KI über sich selbst sagen können - anmutig und tapfer als Opfer in Aulis, dann Vollstreckerin von Opferungen auf Tauris? So viel Widerspruch.

Deshalb brauchen Menschen THEATER.

Zweiter Gedanke

Altgriechisch – bedeutet THEATER „anschauen“, ganz genau, oder im Spiegel, mal fiktiv oder als Realerfahrung. Immer aber ist es nur ein Spiel - in verschiedenen Rollen, mit permanenten Perspektivwechseln, nie alternativlos, bunt, voller Bewegung. Dabei kann die Prinzessin die Magd sein und die Magd die Prinzessin. Träume aus dem THEATER können Wirklichkeit werden, sie sind ja wirklich erdacht und live. Möglichkeitsräume. Zum Lachen und Weinen wie venezianische Masken, zur REINIGUNG DER SEELE, zur HEILUNG, im antiken THEATER gibt es FÜR JEDES PROBLEM eine LÖSUNG, Gott oder Göttin. Schön wär’s.

Auch der Rheinsberger Prinz Heinrich, um 14 Jahre jünger als sein berühmter Bruder Friedrich II., brauchte THEATER. Er dichtete, deklamierte, schrieb Libretti, entwarf Bühnenbilder, trat selbst als Darsteller auf und spielte Geige.

Außerdem verfügten schließlich seine Geschwister über ihre THEATER, ganz zu schweigen von den Königs- und Fürstenhäusern Europas, selbst Landgrafen und Herzöge protzten mit Bauten und Künstlern. Auch wenn mir der Gedanke an Künstler als Leibeigene von Politikern übles Missbehagen verursacht – den Spiegel, den Perspektivwechsel, die Beweglichkeit der Gedanken – ein Parlaments-THEATER mit freien Künstlern für die politische Bühne klingt gut!

Erwartet werden heute Skills, englisch-eingedeutscht, nicht mehr griechisch. In der Gamer-Sprache schlicht Fertigkeiten im Spiel. In der Persönlichkeitsentwicklung sind es Flexibilität, Belastbarkeit, Verantwortungsbewusstsein, Zielstrebigkeit und Teamgeist. Aktuelle Studien belegen musikalische Bildung als Maßnahme zur Erreichung dieser Skills. Und zwar für alle Menschen. In den Königshäusern des 18. Jahrhunderts gehörte musikalische Bildung zum Erziehungsprogramm, ungeachtet der vorhandenen Begabung.

Prinzen und Prinzessinnen ohne politische Machtaussicht wurden darauf vorbereitet, die Macht der Kunst für sich zu nutzen. Friedrich II. verstand sich als Komponist und musizierte sein Leben lang. Zu Friedrichs ersten Staatshandlungen als König gehörte der Auftrag für den Bau einer Berliner Hofoper. Im Berliner Schloss gab es den provisorischen Komödiensaal von Knobelsdorff. 1748 wurde das THEATER im Potsdamer Stadtschloss fertig, 1768 nach dem Siebenjährigen Krieg das THEATER im Neues Palais, 1774 – parallel zum Rheinsberger THEATER – das Französische Komödienhaus auf dem Berliner Gendarmenmarkt. Der König hatte überall seine Noten und seine THEATER.

In kürzester Zeit etablierte Schwester Wilhelmine von Bayreuth ihr barockes Markgräfliches Opernhaus Bayreuth von 1748, mit der modernsten Bühnentechnik, eigenen Kompositionen und hohem interpretatorischem Können am Cembalo.

Prinzessin Luise Ulrike, die spätere Königin von Schweden, weihte 1766 ihr THEATER im Schloss Drottningholm bei Stockholm ein, eine perfekte Illusion, kostengünstig, nicht prunkvoll, Gluck-Opern gehörten schon zum Spielplan.

Prinzessin Anna Amalie, die spätere Äbtissin von Quedlinburg, komponierte mit starker melodischer Inspiration und sammelte in ihrer Bibliothek gemeinsam mit ihrem Kompositionslehrer Johann Friedrich Kirnberger die Noten ihrer Zeitgenossen und ältere Werke u.a. von Bach, Couperin, Corelli und Telemann. Kirnberger (1721– 1783), dieser weitsichtige Sammler und Ratgeber, war Geiger in der Königlichen Kapelle in Potsdam und einige Zeit auch bei Prinz Heinrich in Rheinsberg. Es ist zu vermuten, dass er die Prinzen im Spiel von Streichinstrumenten unterwies. Prinz Heinrich spielte nachweislich die zweite Geige 1753 in Berlin mit Johann Adolf Hasse (1699–1783) und 1784 in Paris mit Giovanni Battista Viotti (1755-1824).

Berichtet wird auch, dass sich Prinz Heinrich in jungen Jahren mit seinen Geschwistern im Charlottenburger Schloss im Konzert hören ließ - August Wilhelm (1722–1758) spielte Violoncello, die Prinzen Heinrich und August Ferdinand (1730–1813) Geige, Prinzessin Anna Amalia (1723–1787) begleitete am Cembalo.7 Musikalische Bildung als Selbstverständlichkeit.

Dazu brauchten Prinzen und Prinzessinnen ihre THEATER.

Und ganz ehrlich: A L L E hatten schon ein richtiges THEATER, so sehen das jedenfalls Geschwister untereinander. Prinz Heinrich stand ab 1752 vorerst nur ein größerer Raum im Nordflügel des Schlosses zur Verfügung. Zu klein für THEATER, Konzert und Feste. Zu klein für Oper. 1758 verlagerte sich THEATER nach draußen in grüne Hecken, Festkultur mitten im Siebenjährigen Krieg.

Gleich nach dem Siebenjährigen Krieg finden ab 1763 Aufführungen in einem „kleinen Theater“8 im östlichen Flügel des Kavalierhauses statt. Der Raum konnte im Zuge der Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten vor wenigen Jahren denkmalpflegerisch aufgenommen werden. Aber das Repertoire des Prinzen verlangte nach einem richtigen THEATER. Säkularisierung. Es entstand keine binäre Konfrontation, sondern eine dauerhafte Gesamttransformation der religiösen und politischen Sphären.

Dritter Gedanke – das historische Schauspielhaus

1770 besuchte Prinz Heinrich seine Schwester Ulrike und ließ sich von ihrem Theaterbau in Drottningholm anregen. Wir reden von einer Illusion aus Holz und Gips und Pappmaché mit bemalten Leinwänden, Theater halt, wie eh und je. Weder Agamemnons Schiff im Wasser noch die schwer bewaffneten Krieger auf Aulis sind im Theater echt. Zum Glück.

Umgehend hatte Carl Wilhelm Hennert, seit 1767 Bauintendant bei Prinz Heinrich, für einen Theaterbau zu sorgen. Er verehrte den Renaissance-Architekten Andrea Palladio und dessen klare an der Antike orientierte Formensprache. Deshalb müssen auch Terenz und Plautus für die Programmatik sorgen – 6 Komödien aus der Zeit 166 bis 160 vor Christi sind in Pergamenthandschrift erhalten von Terenz, der als Sklave nach Rom kam und wegen seines Talentes von seinem Herrn frei gelassen wurde. Er ist der Verfasser des epischen Lehrgedichtes De rerum natura - eine Darstellung des Weltbildes Epikurs, um die Menschheit vor der Furcht vor den Göttern zu erlösen. Das hat schon wieder mit unserer Iphigenie zu tun. Keiner weiß, wie antike Götter entscheiden!

Terenz beschrieb Alltagsleben. Ehe, Kindererziehung und Liebeschaos. Ein geflügeltes Wort kommt von ihm, das Sie alle kennen, aus der Komödie „Der Selbstquäler“:

„Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.“

(Heaut., 77). Oder

„Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe“

oder

„Ein kluger Mensch muss alles versuchen, bevor er zu den Waffen greift.“

Die Weltliteratur ist noch immer begeistert von Terenz, der den Beinamen „Afrikaner“ trug und vermutlich aus Libyen stammte. Eine seiner Statuen steht heute vor dem Opernhaus Hannover.

Plautus, der andere Kopf am Schlosstheater, rechts, war 50 Jahre älter und verstand sich auf durchaus derbe und auch vulgäre Dichtung, dabei witzig und volkstümlich, Musik kam dazu, wenn es passte.

Unter den antiken Blicken dieser beiden in der Sichtachse der Apollo-Statue auf der Schlossinsel wurde also Heinrichs Französisches Schauspielhaus 1774 mit Titus eröffnet, Musik von Johann Peter Salomon, Text von Heinrich von Preußen nach Metastasio, alles verschollen. Mozarts Titus kam erst später heraus, 1791 in Prag. Es war üblich, sich einem guten Theaterstoff mit anderer Handschrift mehrmals zu widmen.

In seiner Beschreibung des Lustschlosses und Gartens Sr. Königl. Hoheit des Prinzen Heinrichs, Bruder des Königs, zu Rheinsberg wie auch der Stadt und der Gegend um dieselbe notiert der beauftragte Theaterbaumeister Hennert 1778:

„An dem äußersten Ende der Facade des Kavalierhauses nach dem Schloße ließen Se. Königl. Hoheit einen weiter vorspringenden Flügel (1774) von 74 Fuß lang, in gleicher Höhe mit diesem Hause, erbauen, und zu einem Schauspielhause einrichten. An der schmalen Seite dieses Flügels, der gegen das Schloß gerichtet ist, sind 4 …hervorspringende Pilaster von dorischer Ordnung angebracht, worauf ein spitzzulaufendes Frontispice ruhet, darinn ein al Fresco … , es stellet den Apollo mit der Leier vor, um welchen Genii mit den Attributen der Musen spielen. Die Größe des Amphitheaters ist verhältnismäßig nach der Anzahl der Zuschauer eingerichtet, zwey Reyhen Logen übereinander, mit blau und weiß gemahlten Blumengehängen ausgezieret, werden von Termen und gewundenen Säulen getragen, und schließen nebst dem Parterre den Platz für die Zuschauer ein. Das Theater aber hat eine ansehnliche Breite und Tiefe, die Decorationen von der Erfindung des geschickten Herrn Cagliari, unter welchen sich ein Wald und ein Circus vorzüglich ausnehmen."9

Und schon widmet sich Hennert wieder der Beschreibung des Grabens, der Brücke und der Vasen im Schlosspark. Sein eigener architektonischer Anteil am Theater ist ungewiss und wahrscheinlich zugleich.

Was war besonders an diesem THEATER? Die Größe der Bühne. Typisch für Liebhabertheater musste sie groß sein. Mit einer Tiefe von 17 m, 13 m breit und 9 m Höhe zuzüglich vorgelagertem Orchestergraben, auch noch mal 3 m tief und neuneinhalb Meter breit auf Ziegelpflasterboden. Die Bühne nahm mehr als zwei Drittel des Raumes ein. Die Darsteller brauchten Platz, der Theaterimpresario und Regisseur ebenso.

Eine Mittelloge für den Herrscher gab es nicht, es gab ja auch nicht wirklich einen Herrscher. Die Loge des Prinzen befand sich im ersten Rang auf der linken Seite unmittelbar vor der Bühne, darunter ein Beobachtungsplatz, beides auch heute noch für den Intendanten eines Theaters durchaus üblich, Götz Friedrich konnte über eine Kamera jederzeit das Bühnengeschehen der Deutschen Oper beobachten. Prinz Heinrich betrat sein Theater durch die linke Tür, die rechte nahm das bürgerliche Publikum, und durch den heutigen Besuchereingang konnten Dekorationen bis zur Bühne vorgeschoben werden. Schiffe des Agamemnon aus Pappmache vor dem Zeltlager auf Aulis, auf Leinen gemalt der Palast des Agamemnon, aus Holz der Opferaltar. Vielleicht.

Davor hufeisenförmig das Parkett, Rokokotheater eben. Ein Dekorationsmagazin erwies sich im Laufe der Bühnen-Produktionen für Schiffe und Altäre als notwendig und kam 1781 hinzu.

Vierter Gedanke: Repertoire und Interpreten bei Heinrich

Andrew Hamilton schrieb 1883:

„Eines Tages wird es vielleicht Jemand der Mühe werth halten, Daten über musikalische und dramatische Leistungen am Hofe des Prinzen Heinrich zu sammeln.“10

Die Quellenlage ist nicht gut, auch wenn Voltaire über Prinz Heinrich an Formey 1777 bestätigt:

„Alles, was Sie über das Leben, das er in Rheinsberg führt, erzählen, bestätigt meinen Eindruck, dass Kunst und Glanz sich in den Norden geflüchtet haben.“11

Der Rheinsberger Spielplan war von Mai bis Oktober reich angefüllt mit Schauspiel und Oper, französischer Komödie und Singspiel. Gespielt wurde zwei Mal in der Woche, am Donnerstag und am Sonntag, um 6 Uhr. An kühlen Tagen wärmten Kaminfeuer am Bühnenrand. Während der Zwischenakte wurde Tee gereicht, weshalb die Musikakademie Rheinsberg in den 2000er Jahren zur großen Freude des Publikums TEEMUSIKEN veranstaltete, ein inspirierender Kräuterduft zog während der Konzerte durch das Theater.

Im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung preußischer Kulturbesitz liegt der Nachlass des Rheinsberger Prinzenhofes, ohne Theater-Spielpläne. Karl Paesler-Neuendorf berichtet, dass aus den Rechnungen hervorgehe, dass man oft an einem Abend zwei Stücke gespielt habe, eine Komödie und eine Operette, vor dem Soupe sogar noch ein Marionettentheater im Spiegelsaal. Sicher hing die Dichte des Spielplanes von den Festivitäten bei Hofe ab, zwei Aufführungen an einem Tag dürften die Ausnahme gewesen sein.

In den Gehaltslisten finden sich 5 Frauen, fünf Männer und ein Souffleur für das Theater als feste Besetzung. Bei großen Opern von Gluck und Gretry halfen Bedienstete und Höflinge im Chor aus. Auch aktuell singt in Iphigenie ein Amateurchor, der Kammerchor Chorisma aus Neuruppin. Das war und ist nichts Besonderes bei Opernproduktionen. Mit Vorsicht ist die Annahme zu betrachten, die Bediensteten hätten auch im Orchester mitgespielt. Die Epoche der Klassik war etabliert, das musikalisch Neue fand gerade nicht in Hofkapellen statt, sondern eher im Theater der Aufklärung. Folglich musste sich die Hofkapelle nicht aus den besten Musikern der Zeit zusammensetzen wie noch beim Kronprinzen. Die Musiker der Infanterie – Holzbläser – spielten allwöchentlich Freiluft-Konzerte und auf Festen und Bällen, sicher wurden sie auch in Opern einbezogen. Aber die gestrengen und hochqualifizierten Kapellmeister ließen mit Sicherheit nichts durchgehen und das meist positive Urteil über Rheinsberger Aufführungen spricht für ein gutes Zusammenspiel.

Prinz Heinrich vertraute die Qualität der Aufführungen seinen Kapellmeistern an. Er schickte Johann Peter Salomon nach Paris, um Theaterkünstler zu verpflichten. Das konnten Stars wie später die Sängerin Liboron oder auch ganze Theaterfamilien sein.

Morveau, Vorleser des Prinzen, beschreibt den Regisseur Blainville aus Paris, der ehemals zur Comédie francaise gehörten. Auch der französische Emigrant Toussaint bildete mit sämtlichen Familienmitgliedern einen Besetzungsstamm des Theaters: Mdm. Toussant als Charakterdarstellerin, die älteste Tochter als Tragödin, der Sohn spezialisiert auf Rollen aus dem Volke, die Kinder als Liebhaber und Soubrette. Gehen Sie mal eben kurz die Rollen Ihrer Lieblings-TV-Serie durch – alles wie heute! Einzelne Interpreten lohnt es zu erforschen, den Geiger Edouard Dupuy, die Sopranistin, auch Cembalistin und Geigerin Gertrud Schmehling, kurzzeitig mit dem Rheinsberger Cellisten Johann Baptiste Mara verheiratet und den Hornisten Franz Horzitsky und seine Kompositionen. Auch von einer Mdm. Aurore aus Paris und ihren Starallüren kann man lesen.

Die Kapellmeister bestimmten also die Programmatik des Theaters. Salomon, der erste und Komponist des Titus von der Eröffnung, professionalisierte die Kapelle und die Probenabläufe bis zur Auflösung der Kapelle 1779 wegen Prinz Heinrichs Teilnahme am Bayerischen Erbfolgekrieg. Salomon wurde Direktor des Opernorchesters in London und führte erstmals in England Sinfonien von Haydn auf.

Das Theaterleben in Rheinsberg musste nach dem Kriegsjahr neu aufgebaut werden. Mit Johann Abraham Peter Schulz kommt ein Komponist an das Rheinsberger Theater, der mit seinen eigenen Rheinsberger Stücken Musikgeschichte schrieb: mit dem Singspiel Die Fee Urgéle nach Voltaire (in Rheinsberg 1782 und dann wiederentdeckt Ostern 2000 von der Musikakademie)12, der Tragödie Athalie (in Rheinsberg 1785) und dem Schäferspiel Aline (in Rheinsberg 1787). Er gehörte – wie Zelter, Kirnberger und Reichardt – der 2. Berliner Liederschule an.13 Bei ihm wurde - im französischen Theater - in deutscher Sprache gesungen und in Dialogen gesprochen. Die Singspiel-Form entstand als deutsche Variante der Opéra comique, für die in Rheinsberg besonders die Stücke von André Ernest Modeste Grétry (1741-1813) stehen, darunter 1787 Das sprechende Bildnis (Le tableau parlant), wieder gespielt im Schlosstheater durch die Musikakademie. Beinahe 100 Jahre lang stand diese Vaudeville-Komödie in Paris auf dem Spielplan.

Auch Das Urteil des Midas von Grétry entdeckte die Musikakademie neu. Eines der immer frischen und spritzigen Grétry-Themen variierte Mozart in dem heute eingangs gespielten Klavierwerk. So viel Erfolg rief Neider auf den Plan. Die Zeitgenossen scherzten, bei Grétry würden zwischen Ober- und Unterstimme ganze Fuhrwerke hindurchpassen!

Gluck hingegen legte - auch in den Mittelstimmen - durchkomponierte Opern ohne gesprochenen Text vor, die nicht mehr vom Cembalo aus gedacht waren. Nun, Schulz mag übertrieben haben, als er in seiner Selbstbiografie mit Aufführungen von Gluck prahlte. Mindestens vier Gluck-Opern waren es historisch, die Kammeroper legte zwei nach, die Musikakademie drei und nun kommt Iphigenie in Aulis wieder.

Kapellmeister Schulz führte auch Piccinnis Opern auf, die Pariser Tumulte drangen nicht bis nach Rheinsberg– die Musikakademie spielte seine Cecchina, Die gute Gärtnerin und im Sommer wird Dido, die Königin von Karthago, bei der Kammeroper konzertant im Schlosshof zu hören sein. Dann werde ich Sie fragen: „Hand aufs Herz – sind Sie Piccinnist oder Gluckist?“

Der nächste Kapellmeister nach Schulz war Johann Samuel Carl Possin, Schüler von Schulz und ein Freund von Carl Friedrich Zelter. Er führte feste Probenzeiten ein,

"nach sechs Monaten war die Oper so in Ordnung, dass der Prinz bei einer Gelegenheit, wo er vornehme Gäste bewirtete, kurz nacheinander 15 verschiedene Opern ohne Hindernis und Anstoß aufführen lassen konnte.“14

So Zelter, der Komponist vom König in Thule. Zelter wiederrum war befreundet mit jenem Johann Friedrich Reichardt, der Rheinsbergs Theater oft besuchte und beschrieb, der Komponist von „Bunt sind schon die Wälder“, „Wach auf mein’s Herzens Schöne“, „Der Frühling hat sich eingestellt“, „Wer hat die schönsten Schäfchen“ oder Goethes „Ein Veilchen auf der Wiese stand“. Auch „Wenn ich ein Vöglein wär“ und „Schlaf, Kindlein schlaf“ werden Reichardt zugeschrieben. Seine Oper Geisterinsel (1798) nach Shakespeares Sturm, voller liedhafter Arien, spielte die Musikakademie 2007 während der Osterfesttage der Alten Musik. Eine schon frühromantische Geister-Oper im Caspar-David-Friedrich-Licht, und natürlich gibt es einen handfesten Sturm.

Prinz Heinrich verstand das wenig, die beiden Bände der Rheinberger Lieder im Volkston von Schulz mit dem herrlichen dreistimmigen „Der Mond ist aufgegangen“ wird er nicht gekannt haben. Schulz schreibt an Gleim 1797:

“Als ich, sein ehemaliger Kapellmeister für ein französisches Theater, und bis auf diesen Tag von ihm geehret und geachtet, ihm ein Exemplar meiner Uzischen geistlichen Lieder überreichte, schlug er das Buch auf, blickte hinein, und brach mit Gelächter und Verwunderung aus: Was ist das? Deutsch und geistlich? – das ist ja was infames! Wie kann er solch Zeug komponieren?“15

Nun, es war halt der Liedermann Schulz, wie er in die Nachwelt eingehen wollte, nicht Gluck.

1790 kam Christian Kalkbrenner, der zuvor bei der Königin von Preußen in Berlin als Kapellmeister angestellt war und nach seiner Rheinsberger Zeit zum Singmeister der Grand Operá in Paris ernannt wurde. 1796 folgte Bernhard Wessely, in dessen jüdischem Elternhaus Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing verkehrten, er gehörte mit Reichardt, Schulz und Zelter zu den Erneuerern der Berliner Musikszene. Soweit die Kapellmeister des Prinzen Heinrich.

Graf Mirabeau, über den Siegfried Matthus eine große Oper zur französischen Revolution komponierte, weilte 1786 in Rheinsberg. Eine schillernde Persönlichkeit, seine Geheime Geschichte des Berliner Hofes, wurde in Paris lt. Parlamentsentscheidung im Revolutionsjahr 1789 verbrannt. Er schrieb über Heinrich, dessen politische Ansichten er um jeden Preis, also auch Bestechung, herausfinden wollte:

„Dieser Prinz ist französisch und wird französisch bleiben und sterben. Wird er Einfluss haben? Das weiß ich nicht…. Er wird das Land verlassen, wahnsinnig werden und sterben.“16

Was denk so jemand über Mozart? Der Gräfin Henckel berichtet Prinz Heinrich 1800:

“Letzten Freitag gab man eine Kirchenmusik von Mosar… viele Leute waren voller Bewunderung. Im Vertrauen sage ich Ihnen, dass ich es abscheulich fand… eine wütende Höllenmusik, einzig die Kanonen fehlten, alle Instrumente machen einen Höllenlärm, man sagt, dass es sehr gelehrt sei, darauf habe ich geantwortet, den Messias von Klopstock findet man bewundernswert, aber niemand versteht ihn.“17

Umso wichtiger war es für die Kammeroper Schloss Rheinsberg, Mozart Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Seine Opern fanden sich regelmäßig auf dem Spielplan des Festivals im Schlosshof und im Heckentheater.

Fünfter Gedanke – Wiederaufbau des THEATERs

1802 ist alles vorbei im historischen Theater, es verfällt. Fast 200 Jahre lang. In der Beschreibung zu Messbildern von 1931 wird der „frühere Glanz und alle Großartigkeit“18 des Zuschauerraums vermisst. Schon damals stand das Theater lange leer.

Am 29. April 1945 zerstörte ein Granattreffer das Schauspielhaus, es stand offen und die Menschen brauchten Holz zum Heizen. Alle Versuche des Diabetikersanatoriums, des neuen Schlossnutzers, die Theaterruine zu sanieren, scheiterten am Rat des Bezirkes Potsdam.

Auf einem antiken Wandfries würden in blauen Linien auf weißem Grund die wichtigsten Daten zum Wiederaufbau geschrieben stehen:

29. Juni 1990 - Der Beschluss Nr. 2/1990 der Stadtverordnetenversammlung von Rheinsberg galt der kulturellen Nutzung der Rheinsberger Schlossanlage. Geladene Referenten der nahezu feierlichen Anhörung im Spiegelsaal des Diabetikersanatoriums waren der Komponist Prof. Siegfried Matthus und ich als Musikwissenschaftlerin. In der Diskussion verwies Kantor Hartmut Grosch auf die Notwendigkeit einer Musikschule in Rheinsberg, die DDR-Meisterin in künstlerischer Gymnastik Ingeborg Intelmann auf die Sparte Tanz in einem neuen Kunsthaus und Renate Breetzmann vom Institut für Denkmalpflege auf die Restaurierung der gesamten Schlossanlage, inklusive Wiederaufbau des Schlosstheaters. Es gab durchaus auch andere Pläne, nämlich im Kavalierhaus und weiteren Gebäuden am Markt ein Hotel einzurichten.

Zwei Monate später, am 20. August, gründeten Rheinsberger und zugereiste Berliner den „Kunst- und Kulturverein Rheinsberg“, noch im Dschungel der DDR-Bürokratie. Gründungsmitglieder waren u.a. Siegfried Matthus, Manfred Richter (bald danach bis 2009 gewählt als hauptamtlicher Bürgermeister der Stadt Rheinsberg), Karin Niemann (die Gründungsvorsitzende), Dr. Detlef Fuchs (langjähriger Schlossdirektor), die Denkmalpflegerin Renate Breetzmann und der Stadtverordnete Erich Kuhne. Ich leitete die Gründungsversammlung und gehöre seither dazu.

Ein erstes Konzert veranstaltete der Kunst- und Kulturverein am 8. September 1990 in der St. Laurentiuskirche mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Leitung von Heinz Rögner. Es war ein Test: Ob die Kirche voll wird? Würden die Berliner kommen? Manfred Stolpe kam, als Konzertbesucher, er war noch kein Ministerpräsident. Der Berliner Magistrat erhielt von mir das Konzept einer Musikakademie und von Siegfried Matthus das Konzept für ein Opernfestival im Sommer. Das Diabetikersanatorium gab es noch, das Land Brandenburg gab es noch nicht. Zu den ersten Vorgängen des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Potsdam gehörten dann die beiden Konzepte für Musik und Theater in Rheinsberg. Der erste Brandenburgische Kulturminister Hinrich Enderlein sagte schlicht: „Fangen Sie an!“

1991 wird die Übergabe der Rheinsberger Schlossanlage vom Gesundheitswesen an die Kultur verhandelt. Erst jetzt können sämtliche Räume des Schlosses und des Kavalierhauses besichtigt werden – der Billardtisch in der Wohnung von Prinzessin Amalie, überflieste historische Wandtapeten im Labor, der Verkaufstresen in Prinz Heinrichs Schlafzimmer, die Abflussrohre von Patientenwaschbecken, brachial in die bemalte Sockelgestaltung gestemmt.

Am 1. April 1991 erfolgt die Unterzeichnung des Übergabeprotokolls der Rheinsberger Schlossanlage an die Kultur durch Staatssekretär Jürgen Dittberner im Potsdamer Kulturministerium. Eine Übergabe ohne Inventarliste, dafür blieb keine Zeit. Merkwürdigerweise übergibt das Diabetikersanatorium später keine einzige Schreibmaschine, kein Büromaterial, keine Kaffeemaschine…

Detlef Fuchs plant die Museumseröffnung im Schloss für den 6. Mai, Siegfried Matthus und ich führen noch am 1. April Bewerbungsgespräche mit zwei Mitarbeiterinnen für Musikakademie und Kammeroper – Ingrid Willomitzer (Finanzen) und Annelies Schindler (Büro). Bürgermeister Richter lädt zum Essen in Grünplan ein, die Rheinsberger Gastronomie hat an diesem Tag geschlossen. Das Kavalierhaus befindet sich in verwüstetem Zustand, Laborgeräte inmitten von Blumenerde und traurigen Hinterlassenschaften. Es geht los in Kittelschürzen: Betten räumen, brauchbare Wäsche zählen, Zimmer mit DDR-Holzersatzmöbeln einrichten, dazwischen Projektanträge für die Opern im Sommer und für nachfolgende Akademiekurse. Bis zum Sommer schließen sich uns 15 Arbeitslose an, fast alle aus dem abgewickelten Diabetiker-Sanatorium und dem abgewickelten FDGB-Feriendienst, später auch aus dem abgeschalteten Kernkraftwerk. Alles ABM-Maßnahmen. Die ersten Proben der „Kammeroper Schloss Rheinsberg“ beginnen pünktlich am 15. Juli 1991 um 10 Uhr unter der künstlerischen Leitung von Siegfried Matthus, für zwei Jahre leite ich die gemeinsamen Geschäfte von Oper und Akademie. Das Genre „Kammeroper“ war mir wichtig, klein und fein wie der Schlosspark. Dabei hatte ich einen bedeutenden Verbündeten - den Generaldirektor der Schlösserstiftung Hans-Joachim Giersberg. In der alten Musik ist der General das Cembalo, der Generalbass, und alle spielen seine Verzierungen ordentlich nach. Der General gibt also die Richtung vor. Unser General liebte Rheinsberg und die fröhlichen neuen Kunstideen.

Das erste Klavier wurde vom Klavierstimmer Wolf aus Neuruppin geliehen. Mitte August, gut vier Monate nach den Vertragsabschlüssen, zahlte das Arbeitsamt den ersten Lohn.

Alle wissen: vom Erfolg der Oper hängt die musikalische Zukunft für Rheinsberg ab. Geht das Freilichtkonzept auf? Schreckt das gerade abgeschaltete Kernkraftwerk Touristen ab? Was wird aus Europas größtem Bombenabwurf- und Schießplatz in der Nähe? Alles geht gut - Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke von Matthus und Die Gärtnerin aus Liebe von Mozart. Es geht weiter. Und Mozart war von Anfang an dabei. Im Jahr darauf gab es im Heckentheater die beiden Gluck-Opern Die Chinesinnen und der Lorbeerkranz. Ich habe den Lorbeerkranz noch übersetzt und eingerichtet, damit sein Sprachwitz verstanden wird.

Es ging also – wie es sich für Rheinsberg gehört – mit Opern von Mozart und Gluck los, im Heckentheater übrigens mit Pferdekutsche und Springbrunnen! Das entspricht dem Festcharakter zahlreicher historischer Bälle auf diesem Theater und gehört zur Freilichtaufführung nun mal dazu.

Träger für alles war der Kunst- und Kulturverein, ehrenamtlich geführt und voll verantwortlich. Wir waren mutig. Erst 1993 trennten sich die Wege von Kammeroper und Musikakademie, beide Institutionen wurden gemeinnützige GmbHen, die Musikakademie bald institutionell gefördert als Bundes und Landesakademie und die Kammeroper Schloss Rheinsberg in den beiden Sommermonaten projektgefördert. Bis zur Fusion als Landeseinrichtung 2014 war die Stadt Rheinsberg Hauptgesellschafter. Landkreis, Ministerium, Landesmusikrat und Kunst- und Kulturverein mussten mit ihr an einem Strang ziehen. Der Bürgermeister setzte seine Stempelgewalt unverdrossen für Kunst und Kultur ein. Es war die spannendste Zeit überhaupt, obwohl noch der Kohlehaufen vor dem Schloss lag.

Innerhalb weniger Stunden entstand der erste Bauantrag für das Theater. Aber: Theater wurden gerade nicht gefördert, dieser Begriff schied für den Antrag aus! Anliegen war also die Erweiterung des historischen Kavalierhauses durch ein Künstlerhaus, ein Probenhaus und einen großen Saal. Für die Nutzung der 60%-Finanzierung durch die EU war das Abgabedatum des Bauantrages einzuhalten – nachts dreiviertel 12 reichte ich den Antrag termingemäß und gegen Pförtner-Quittierung des Datums 9. März 1993 bei der Investitionsbank des Landes Brandenburg ein. Das Bundesinnenministerium förderte die bauvorbereitenden Maßnahmen, Dr. Manfred Ackermann half.

Voraussetzung für den Bau war ein 25-jähriger Pachtvertrag von der neuen Eigentümerin Schlösserstiftung mit der Stadt und ein Betreibervertrag der Stadt mit der Musikakademie über die ganzjährige Betreibung des Theaters mit Nutzung der Kammeroper in den beiden Monaten Juli und August. Eine Machbarkeitsstudie konnte in Auftrag gegeben werden, vorgelegt im Mai 1994. Seitdem weiß ich, was ein Raumbedarfsplan ist, 4.000 m2 Hauptnutzfläche, 33 Bau-Mio. DM wurden veranschlagt.

Außerdem gab es akademische Forschung: 1995 erschien die Buchpublikation Die Rheinsberger Hofkapelle von Friedrich II. – Musiker auf dem Weg zum Berliner Capellbedienten, die programmatische Grundlage für ein spezifisch Rheinsberger Veranstaltungsangebot. CD-Produktionen und Notenausgaben folgten.

Für wen sollte das Theater sein? - Für junge Künstler und ihr Publikum. „Wer kennt nicht Rheinsberg mit seinem großen See, wo die Künste gedeihen“ hatte Abbé Jacques Dellile 1796 geschrieben. Neben Rheinsberger Wiederentdeckungen sollte heutigen Musizierformen Raum gegeben werden – ganz dem Gedanken folgend, dass der Flötist Friedrich II. und der Theatermanager Prinz Heinrich Kunst ihrer eigenen Zeit förderten.

Aber zuerst spielten Kammeroper und Musikakademie in der Theaterruine, die Kammeroper Othmar Schoecks Vom Fischer un syner Frau und Jacques Iberts Angelique, die Musikakademie szenische Uraufführungen, u.a. von Günter Neubert aus Leipzig und Helmut Zapf in Video-Bildern von Rose Schulze, beide aus Zepernick. Von Zapf hören wir später im Theater, Lilith und Das goldene Kalb wurden uraufgeführt, es folgten mit dem „Kalb“ Gastspiele in Starnberg und im Sonderprogramm des internationalen Tanzwettbewerbs in Kaunas. Auch Rose Schulz wird noch wichtig für das Theater, sie wird das Foyer gestalten und die Farbe der Wände und der Bestuhlung im Saal empfehlen.

1996 entscheidet sich die SVV Rheinsberg um eine Stimme mehr für den Einsatz ihrer investiven Mittel in den Theaterbau und somit gegen ein neues Feuerwehrhaus! Ohne dieses herzhafte Bekenntnis wären alle Baupläne ins Stocken geraten. Später findet das Land eine Lösung, die Stadtmittel nicht für das Theater zu verwenden und das Feuerwehrhaus kommt auch noch. Die Baugenehmigung der Unteren Bauaufsichtsbehörde Neuruppin für das Künstlerhaus und den angrenzenden westlichen Teil des Kavalierhauses wird am 11. September 1996 erteilt, nicht zuletzt dank des unermüdlichen Einsatzes unseres Hausmeisters Gernot Pietz, der per Akademiebus alle erforderlichen Unterlagen transportiert und mit den Sekretärinnen der Bauämter viel Kaffee trinkt. Die Zuwendungsbescheide aus dem Dezember 1996 verzeichnen 22.917.000 DM für die „Rekonstruktion des Kavalierhauses der Schlossanlage Rheinsberg und den Aufbau eines Künstlerhauses und eines THEATERstudios zur Entwicklung des kulturellen Veranstaltungszentrums der Stadt Rheinsberg unter der Leitung der Musikakademie Rheinsberg“. Aus 33 Mio. DM Bedarf waren 23 Mio. geworden. Bauherr ist die Stadt Rheinsberg, vertreten durch das Bauamt der Schlösserstiftung. Bauberatungen – immer donnerstags - gehören nun zum täglichen Geschäft, unter Leitung von Baudirektor Martin Herborn werden sie zu einem rhetorischen und diplomatischen Erlebnis. Architekt ist Gottfried Hein, der schon die Machbarkeitsstudie erstellte und eingeforderte Funktionalität des Veranstaltungsbetriebes ohne Umschweife versteht, etwa den Wanddurchbruch vom Kavalierhaus zum neuen Künstlerhaus, damit die Geiger nicht bei Regen über den Hof laufen müssen. Und der Weg vom Orchestergraben zur Kantine muss ein kurzer sein, weil Pauken und Trompeten in der alten Oper zwischen Ouvertüre und Finale nur bei königlichen Auftritten zu tun haben. Auch dass die alte, wiedergefundene Stadtmauer den Kantinenblick zum See nicht verstellen durfte, gehörte zu den funktionalen Anliegen.

Zwei Bauabschnitte wurden genehmigt:

  1. Das Künstlerhaus, ein sehr schöner Name, nicht Hotel, nicht Beherbergung oder Belegung - für alle Mitwirkenden, Profis und Amateure, die auch in ihrem Zimmer noch Flötentöne anstimmen oder sich einsingen, im Tonstudio oder im später nach einem Hofmusiker benannten Schaffrath-Saal

  2. Wiederaufbau des Schlosstheaters und angrenzender Räumlichkeiten, weil ja sonst das Kavalierhaus am Übergang zusammengefallen wäre.

Kein neues Probengebäude gen Norden, nicht die dringend notwendige Sanierung des gesamten Kavalierhauses, für die bis heute zwei Mal Geld bereitstand – einmal durch mich und woanders verbaut und einmal nun wieder nach mir, in der Hoffnung auf Umsetzung in den nächsten Jahren.

Neun Mio. DM für den Neubau des Künstlerhauses und Vierzehn Mio. für den Wiederaufbau des Schlosstheaters. Parallel zum Richtfest für das Theater liegt wieder ein akademisches Ergebnis vor: das Buch Das Theater des Prinzen Heinrich erscheint im Jahr 2000 – und darin die ersten Informationen über Iphigenie in Rheinsberg.

Das Theater für die alte Oper und Neues ist 27 m lang, 14 m breit im Eingangsbereich, es verjüngt sich nach hinten auf 13 m und ist max. 16 m hoch. Am besten kein Guckkasten, keine feste Bühnenposition. Die Spielrichtung ergab sich erst mit dem Wunsch von Siegfried Matthus, einen Rang einzubeziehen. Das zog den fahrbaren Orchestergraben nach sich, dann die 60 Motorpodeste für Sitzreihen, aber in Stuhlgruppen, so dass individuelle Szenenbilder möglich sind.

Als reizvoll erweist sich die Seitenbühne in Richtung See und unter Einbeziehung des Kulissenhauses als Auftrittsort, eine niedrige kleinere Bühne, die umso mehr Platz für Zuschauer bietet. Konzerte mit Kindern, Jugend musiziert, Jugend komponiert oder kleine Maskeraden und Marionettentheater eignen sich gut für die Seitenbühne, ohne den beängstigenden Abstand zum Publikum.

Das Theater hat eine Stahlgitterrostdecke, an den Untergurten der Dachkonstruktion befestigt, 16 Punktzüge, je 8 links und rechts, die in einem Schienensystem in Längsrichtung des Theaters über die gesamte Saallänge – ohne Rang - verschoben werden können. Überall kann etwas abgehangen werden, Scheinwerfer auf den Beleuchterbrücken erreichen jeden Punkt des Raumes. Eine umlaufende Galerie auf 4 m über Saalboden dient als Technikgalerie und nicht selten als Auftrittsort für den - auch nicht seltenen - antiken Chor. Die Galerie setzt sich angedeutet im Kulissenhaus fort, so dass es in die Aufführungen einbezogen werden kann. Nichts wird versteckt, Technik lässt sich nicht verstecken, sie wird gezeigt wie sie heute ist, Licht-, Video- und Tontechnik wurden bereits mehrfach erneuert, zuletzt 2023.

Nur die Außenwände erzählen noch von Iphigenie, sie sind nicht verputzt, nicht verkleidet, nur mit einem gelblichen Anstrich versehen. Das rohe Mauerwerk wie vor 250 Jahren, alles was noch da ist, Putzreste, hölzerne Stürze. Das Neue wirkt wie von oben hereingehoben und jederzeit herausnehmbar. Akustikrollos oberhalb und unterhalb der Galerie sorgen für jeweils notwendige Veränderung des Klanges. Von den Akustikproben im Gewandhaus kannte ich Hans-Peter Tennhardt, den ich als Berater nach Rheinsberg holte und der die ein oder andere Korrektur vornahm.

Als Theaterkind kenne ich die Bretter, die die Welt bedeuten und ich kenne Theater, die dieses Gefühl von der Türschwelle an vermitteln. Das Rheinsberger Schlosstheater im Wiederaufbau von Gottfried Hein ist ein solches Theater. Ich freue mich außerordentlich, dass unser Architekt Gottfried Hein heute unter den Gästen weilt.

Sechster Gedanke: Schlosstheater Rheinsberg

Fast 200 Jahre nach der letzten Vorstellung im historischen Theater eröffnete die Uraufführung von Siegfried Matthus mit Kronprinz Friedrich am 30. Dezember 1999 das Schlosstheater Rheinsberg. In einem Festakt durfte ich den Schlüssel auf rotem Samtkissen aus den Händen vom General Giersberg in Empfang nehmen. Ob es den Schlüssel noch irgendwo gibt?

2000, genau am 1. Januar, spielte die „Rheinsberger Hofkapelle“ das Neujahrskonzert im Schlosstheater. Bis heute geht jährlich eine Rheinsberger Hofkapelle – und dieser Titel ist patentgeschützt – aus einem Wettbewerb hervor. Auch ein Residenzensemble Neue Musik gibt es inzwischen.

Kurz nach der Eröffnung kam Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Theater. Was keiner sah: die europaweit ausgeschriebene Lichttechnik traf erst im Mai ein, die Tontechnik im November, die Lüftungsanlage musste komplett ausgetauscht werden. Am 2.11.2000 übernahm ich offiziell das Theater baufertig, gut 10 Monate nach der Eröffnung. Völlig normal.

Die Programmatik steht: Opern-Wiederentdeckungen aus der Zeit des Prinz-Heinrich-Theaters zu Ostern, Szenische Uraufführungen in der Pfingstwerkstatt, im Sommer Matineen der Kammeroper, seit der Fusion von Akademie und Kammeroper Musik-Werkstätten in allen Musikfarben und seit Georg Quander wieder Oster-Oper und ganzjährig Konzerte. Junge Interpreten haben auch heute eine Heimstatt in der „Bundesakademie für Neues Musiktheater“ gefunden, Uraufführungen von Margarete Huber, Christoph Breidler und Emre Dündar wirken weiter. Das Besondere: Sich ausprobieren können, weit genug weg von Berlin und doch nah genug, um bemerkt zu werden.

Gespielt wird im Theater von hinten nach vorne und von vorne nach hinten, mit Echowirkungen und im Dialog, in allen vier Raumecken, auf einem Steg vom Regieraum bis in den Orchestergraben, Medea und ihre Jasons bei Paul-Heinz Dittrich nutzten den Aufgang aus der Tiefe der Antike. Das Publikum saß sich gegenüber wie im englischen Unterhaus. Politisches Drama nach Heiner Müller, wegschauen geht nicht. Theater als gesellschaftliches Zentrum einer Stadt i s t politisch. Die Uraufführung KLIMA von Stelzenbach / Hoyer, Michael Endes philosophischer Spiegel im Spiegel mit Dieter Mann, Cherubinis alte Revolutionsoper Der Wasserträger mit den Soldatenchören im 2. Akt, und WIR SIND DAS VOLK am 9. November mit Ensembles aus Paris, Warschau und Leipzig. Politisch wie Iphigenie und der von Georg Quander geplante Troja-Zyklus.

Jacques Chirac und Angela Merkel waren da, Ministerpräsidenten, Ministerinnen, heute unter uns ein benachbarter Landtagspräsident und der Botschafter des Nachbarlandes. Das meine ich mit „bemerkt werden.“

JEDEN SAMSTAG THEATER hieß lange Zeit der Werbeslogan an den Rheinsberger Einfahrtsstraßen. Rund 100 Veranstaltungen im Jahr aus Meisterkursen, Wettbewerben, Chor- und Orchesterprobenphasen. Auch Stadtfeste, Karneval und Bälle im Theater früher wie heute.

Für Paris und Helena mit Reto Rosin, einem Tenor aus der Nürnberger Meisterklasse von Siegfried Jerusalem, gründete sich das studentische „Orchester 1770“ (das Entstehungsjahr der Oper in ihrer französischen Fassung). Im Chor sangen künftige Opernsängerinnen und -Sänger, alles Studierende unter Leitung des damals 23-jährigen Rustam Samedow, jetzt Chordirektor an der Bayerischen Staatsoper. Alkeste und Orpheus und Eurydike folgten, Chor und Orchester wuchsen immer wieder nach, die studentischen Leistungen wurden zertifiziert von der Hanns-Eisler-Musikhochschule Berlin. Das war der Wiederausbruch des „Gluck-Fiebers“ in Rheinsberg. Natürlich gehörte zu jeder Produktion mindestens eine Geschichte: Alkeste mit den großen Stimmen der junger Interpreten Christina Niessen und Stefan Heiberg sprengte förmlich die alten Theaterwände auseinander. Und dann in der Premierenpause – zum Schrecken aller Vorstände – spielte das Orchester 1770 auf der Kantinenwiese Fußball…

Gastspiele tragen das Rheinsberger Theater und seine Ideen in die Welt – am weitesten kam Hellhörig von Carola Bauckholt, die gerade den GEMA-Autorenpreis erhalten hatte - nach der Rheinsberger Premiere ging es weiter in Warschau, Buenos Aires und Santiago de Chile.

Die meisten Gast-Aufführungen erreichte mit 10 Aufführungen Der Maschinenmensch von Georg Katzer – in Dresden, beim Rossinifest in Bad Wildbach und in der Bundeskunsthalle Bonn, direkt neben der Ausstellung zu Tutanchamun.

Den Kindern in Rheinsberg gefallen im Schlosstheater die kleinen Fassungen der großen Kammeroper-Produktionen aus dem Heckentheater, die kleine Martha, Hänsel und Gretel, Mozart und ein andermal Wagner - in nur einer Stunde. Auch meine Stücke im Theater Windkind, Laternenmann, später Wunderlampe, Heimaten, Petersilienkartoffeln, Streit und noch vor 2 Jahren emojies mit Friedrun und Jörg Ferdinand und dem Deutsch-Arabischen Kindemusiktheater Rheinsberg. Die Kinder sind inzwischen groß und integriert.

Viele Interpreten starteten ihre Karrieren im Theater, es wäre eine lange Liste, alle aufzuzählen. Ich beschränke mich wieder auf die Dirigenten von denen viele in Rheinsberg ihre
e r s t e Oper oder gar eine Uraufführung leiteten - Roland Kluttig, Maciej Zoltowski, James Avery, Jonathan Stockhammer, Alexander Hannemann, Helge Harding, Scott Curry, Jürgen Bruns, Symeon Ioannidis, Hee-Chuhn Choi, Fausto Nardi, Arno Waschk, Aurelien Bello, Eva Caspari, Erik Ona, Justus Thorau, Erina Yashima, Jobst Liebrecht, Rustam Samedow, Eric Solén, und die Aufzählung ist nicht vollständig, sie erweitert sich von Jahr zu Jahr.

Zum Jubiläum dürfen Wünsche geäußert werden. Ich wünsche diesem 250 Jahre alten Schlosstheater, dass ein jeder Besucher das Theater anders verlässt als er oder sie hineingegangen ist. Der Komponist Helmut Zapf, auch Begründer von Jugend komponiert in Brandenburg, sagte mir kürzlich im Interview: „Musik ist immer für Frieden. Andere Musik kenne ich nicht.“ So ist Iphigenie auch.

Siebenter und letzter Gedanke

Ohne Gluck scheint Mozarts Werk unvorstellbar oder es wäre anders geworden.

Die 12 Variationen KV 354 über eine Romanze von Baudron in Es-Dur komponierte Mozart 1778 in Paris, im Jahr der Rheinsberger Iphigenie-Aufführung, also 4 Jahre nach unserer Theatereröffnung. Antoine-Laurent Baudron, 1. Geiger am 1. Pult der Comédie Française, wagte sich als Erster an eine Beaumarchais-Vertonung vom Barbier von Sevilla heran. Sein Thema wandert durch die Stimmen, wird zur Fuge, zum Menuett, auch mal kurz in Moll, 12 kleine Meisterwerke, immer sehr klassisch auf den Punkt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die Liste der Danksagungen nach 250 Jahren ist lang, weil der Erfolg so viele Väter und Mütter hat, auch weil alle Historiker letztlich mit immer denselben Quellen arbeiten. Ich danke wie im Abspann eines Filmes heute zuerst Euripides und Gluck, Prinz Heinrich, seinem vermutlichen Theaterarchitekten Hennert, allen Autoren des Buches Das Theater des Prinzen Heinrich, der Schlösserstiftung, den ministeriellen Förderern, Künstlern, Mitarbeitenden und Besuchern, dem Kunst- und Kulturverein, aber besonders den Architekten und Bauleuten des Wiederaufbaus des Rheinsberger Theaters um Gottfried Hein.

In der Generalprobe heute Abend muss etwas schief gehen. Iphigenie soll von der Göttin Diana erlöst werden. Aber - wenn sie gerettet wird, hat die Flotte Wind und zieht in den Krieg gegen Troja. Das ist der Widerspruch.

Deshalb brauchen wir THEATER.

Toi, toi, toi
allen Mitwirkenden und den Besuchern spannende musikalische Erlebnisse!

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1 Vgl. Gesänge im Volkston 1779; Lieder im Volkston bei dem Klavier zu singen 1782,1785, 1790.

2 Vgl. Otto, Werner, Oper in Rheinsberg. Eine Studie, in: Oper heute. Ein Almanach der Musikbühne, Bd,7, hrsg. v. Horst Seeger und Mathias Rank, Berlin 1984, S. 47-68, hier S.63.

3 Gluck, Christoph Willibald, Alceste, Urtextausgabe der Partitur 1776, Pariser Fassung, Bärenreiter Kassel 2015.

4 Köhlmeier, Michael, Das große Sagenbuch des klassischen Altertums, München 2002. S. 143.

5 Köhlmeier, S. 166.

6 Hier: „Iphigenie auf Tauris.“

7 Vgl. Eva Ziebura: „Das Göttliche Trio“ – die Prinzen Heinrich, August Wilhelm und Ferdinand von Preußen, in: Prinz Heinrich von Preußen – ein Europäer in Rheinsberg, Katalog zur Ausstellung im Schloss Rheinsberg, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, hrsg. v. der Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, München und Berlin 2002, 55–58, hier S. 56.

8 Hennert, Beschreibung des Lustschlosses und Gartens Sr. Königl. Hoheit des Prinzen Heinrichs, Bruder des Königs, zu Rheinsberg wie auch der Stadt und der Gegend um dieselbe Beschreibung des Lustschlosses und Gartens Sr. Königl. Hoheit des Prinzen Heinrichs, Bruder des Königs, zu Rheinsberg wie auch der Stadt und der Gegend um dieselbe, 1778, Nachdruck Generaldirektion der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci 1985, S. 36-37.

9 Hennert, S, 37/38.

10 Hamilton, Andrew, Rheinsberg – Friedrich der Große und Prinz Heinrich von Preußen, Bd. 1, Berlin 1883,
S. 137.

11 Voltaire an Jean Henri Samuel Formey am 26.8.1777, zit. n.: Prinz Heinrich von Preußen in Bildnissen, Ausstellungskatalog, Potsdam-Sasssouci 1994, S. 24.

12 1782, im Jahr der Wiener Uraufführung von Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail.“

13 Johann Joachim Quantz und Carl Philipp Emanuel Bach begründeten die 1. Berliner Liederschule.

14 Zelter, Carl Friedrich, Darstellungen seines Lebens, hrsg. v. Johann-Wolfgang Schottländer, Weimar 1931,
S. 210.

15 Autograph Johann Abraham Peter Schulz an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 13.3.1797. Gleimhaus, Halberstadt.

16 Zit. nach Niemann, Karin, Prinz Heinrich und Rheinsberg, Karwe bei Neuruppin, 2002, S. 20.

17 Zit. nach Hamilton, Andrew, Rheinsberg – Friedrich der Große und Prinz Heinrich von Preußen, Bd. 1, Berlin 1983, S.151.

18 Paesler-Neuendorf, Karl, Theater in Rheinsberg, in: Ruppiner Kreiskalender 21/1931, S. 70-77, hier S. 73.

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Europa Nostra
Empfang im Landtag Brandenburg, 22.3.2024
Rede der Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke

Sehr geehrter geschäftsführender Präsident,
lieber Professor Dr. Hermann Parzinger,
sehr geehrter (gestern frischgewählter) Herr Präsident, lieber Dr. Uwe Koch,
liebe Mitglieder des Landtages,
sehr geehrte Vertreter und Vertreterinnen der Botschaften,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Mike Schubert,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

In diesen Tagen veranstaltet Europa Nostra, das größte Kulturerbe-Netzwerk Europas, erstmals ein Treffen in der Weltkulturerbe-Stadt Potsdam. Sitzungen und Jury-Entscheidungen liegen hinter Ihnen, es geht um den höchsten europäischen Erbe- Kulturpreis. Und Sie waren im Neuen Palais, immer wieder großartig.

Ganz wichtig: Europa Nostra eröffnet ein Büro in Potsdam, mit einer besonders guten Adresse: „Allee nach Sanssouci 6!“ Zu Ihrem neuen Büro in der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg gratuliere ich Ihnen ganz herzlich! Ich bin sicher, diese neue und enge Verbindung zwischen einem zivilgesellschaftlichen Verein wie Europa Nostra Deutschland und der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten verleiht dem Erhalt des kulturellen Erbes einen neuen Geiste von Sanssoucis, „ohne Sorgen.“

Im November des letzten Jahres feierte Europa Nostra sein sechzigjähriges Bestehen in Paris. Mit Europa Nostra entstand 1963 eine Bewegung, deren Ziel es ist, nicht nur die internationale Öffentlichkeit auf die Situation gefährdeter Kultur- und Kulturerbe-Stätten aufmerksam zu machen, sondern zugleich die Bedeutung von Kultur für das Zusammengehörigkeitsgefühls einer Nation und für das Zusammengehörigkeitsgefühls Europas hervorzuheben.

Heute, mehr denn je, ist diese doppelte Ambition immer noch aktuell, und der Konflikt, der im Osten Europas entstanden ist, veranschaulicht dies leider. Es gehört zum Kalkül des russischen Aggressors, ukrainische Identität auszulöschen, also ukrainische Kultur. Dieser Plan geht nicht auf. Aber nach Angaben des Kulturministeriums der Ukraine sind bis zum 10. Januar 2024 insgesamt 872 Kulturstätten beschädigt oder zerstört worden. Allein die UNESCO hat seit dem 24. Februar 2022 Schäden an 346 Stätten verifiziert – 127 religiöse Stätten, 154 Gebäude von historischem und/oder künstlerischem Interesse, 31 Museen, 19 Denkmäler, 14 Bibliotheken und ein Archiv. Einer der frühesten und folgenreichsten Angriffe auf Kultur war die Bombardierung des Theaters in Mariupol vor fast genau zwei Jahren (am 16. März 2022), in dessen Räumen Hunderte Zivilisten Schutz vor Kämpfen um die Stadt gesucht hatten. Die genaue Zahl der Opfer wird wohl nie ermittelt werden können, weil Russland die Spuren beseitigt hat. Schätzungen gehen von 600 Toten aus. In einem Theater.

In der öffentlichen europäischen Diskussion geht es um die militärische Auseinandersetzung und Unterstützung der Menschen in der Ukraine, aber der Plan der Kulturvernichtung ist ebenso real.

Grade hat sich das 1. Forum der Notfallallianz Kultur mit Vertreterinnen und Vertreter von Ministerien, Kulturträgern, kulturgutbewahrenden Einrichtungen und kulturfördernden Institutionen über die Notfallhilfe und Notfallvorsorge im Bereich der Kultur ausgetauscht. Das klingt beängstigend.

Eine Notfallallianz Kultur als gesamtgesellschaftliches Bündnis, um die Resilienz der Kultur in Krisen und Notfällen zu erhöhen. Auch wenn bei uns kein isländischer Vulkan ausbrechen kann, reichen schon Wassereinbrüche und Waldbrände. Wie vor hunderten von Jahren, als unsere Altvorderen Verantwortung für Kultur übernahmen. Pandemie, Klimawandel und wieder Krieg in Europa kommen als Bedrohungen dazu. Es ist gut, dass der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt von kulturellen Ausdrucksformen schon seit 2007 152 Staaten beigetreten sind.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

in Ihrem Jubiläums-Manifest von Venedig für eine „Europäische Kulturbürgerschaft“ beklagen Sie zu Recht, dass zu Beginn der europäischen Integration das Potential der gemeinsamen Kultur und des Kulturerbes nicht ausreichend beachtet und berücksichtigt wurden. Für mich ist das gemeinsame kulturelle Potential das Herz des europäischen Projekts.

Sehr geehrter Herr Botschaftsrat, Präsident Macron schrieb in seinem Grußwort anlässlich der Versammlung in Venedig im letzten Jahr, dass Europa Nostra eine sehr spannende Mission verfolge, bei der die menschliche Dimension viel mehr zähle als die materielle Dimension. Wie wahr.

Mit der angestrebten engeren Zusammenarbeit im Dreiländereck Lausitz, Tschechien und Schlesien haben Sie, lieber Herr Koch, bereits wichtige neue Schwerpunkte gesetzt. Ihr Einsatz für das Kulturerbe ist Arbeit an Europa.

Das Land Brandenburg liegt mittendrin, Vorbilder und Herkünfte von Bauwerken reichen quer durch Europa. Nicht anders ist es in der Bildenden Kunst, im französischen Theater bei König Friedrich in Potsdam oder Prinz Heinrich in Rheinsberg oder im böhmischen Streicherklang der Hofkapellen. Ganz illuster wird es angesichts der europäischen Einflüsse auf die Musik der Sorben, der nationalen Minderheit bei uns in Brandenburg.

Auch der Landtag engagiert sich in vielfältiger Weise für unseren gemeinsamen Kontinent: Im Kongress der Gemeinden und Regionen Europas, auch im Ausschuss der Regionen auf Ebene der Europäischen Union und in zahlreichen Gremien.

Erlauben Sie mir, in diesem Zusammenhang noch einmal an Ihr Jubiläums-Manifest von Venedig anzuknüpfen, in dem Sie dazu aufrufen, gemeinsame nachhaltige Anstrengungen zu unternehmen, um die negativen Folgen des Klimawandels zu bekämpfen und dabei auch die Kräfte des gemeinsamen Kulturerbes für neue Lösungen zu mobilisieren.

Im letzten Jahr war der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas auf meine Einladung und die von Herrn Abgeordnetem Heiner Klemp Gast in Potsdam, um über Klimaschutz auf regionaler und lokaler Ebene zu beraten.

Unser Land ist Vorreiter beim Klimaschutz, etwa durch den zügigen Ausbau der erneuerbaren Energien. Brandenburg deckt heute 95% seines Stromverbrauchs in rechnerisch aus erneuerbaren Energien und es gibt schon energieautarke Gemeinden.

Für mich war es ein großer Erfolg, dass wir die „Potsdamer Erklärung zum gemeinsamen Engagement für eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt“ feierlich unterzeichnen konnten, in der sich die europäischen Kommunen und Regionen in den 46 Staaten des Europarates zum Klima- und Umweltschutz verpflichtet haben. Auch das gehört zum Schutz des Kulturerbes dazu, eines gemeinsamen Erbes.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viele neue Gedanken aus Potsdam, für Ihre Beratungen viel Erfolg und gute Gespräche!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Eröffnung des Jahres der christlich-jüdischen Zusammenarbeit Potsdam-Museum, 11. März 2024
Rede der Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke

(Anrede)
Wie schön, Sie alle hier zu sehen und mit Ihnen heute den Auftakt zu geben für das Jahr der christlich-
jüdischen Zusammenarbeit in Brandenburg. Nicht mehr eine Woche der Brüderlichkeit, sondern ein ganzes
Jahr.

Es sind immer wieder die Anfänge, in denen sich der Geist einer Sache zu erkennen gibt. So wie die
Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit aus einer Bürgerinitiative entstanden, in der
Überlebende der Shoa das Gespräch mit den Tätern gesucht hatten. Im Geist Martin Bubers und Franz
Rosenzweig hatten sie den schmerzhaften Dialog gesucht, nicht weil sie Recht haben wollten, sondern weil
sie um die Kraft des Sprechens und Zuhörens wussten, die Wege zur Versöhnung öffnen können. Diese
Initiative war eine mutige Tat der Befreiung aus dem furchtbaren Schweigen, das sich nach den Verbrechen
des Holocaust über das Land gelegt hatte. Seit diesem befreienden Anfang leisten die Gesellschaften für
christlich-jüdische Zusammenarbeit Versöhnungsarbeit, längst nicht nur zwischen Juden und Christen.
Die Jüdischen Gemeinden bringen sich seit 1991 aktiv in das gesellschaftliche und politische Leben
Brandenburgs ein, kürzlich auch im Landtag bei der Anhörung zu einem oder einer
Antisemitismusbeauftragten. Für alle Ausschuss-Mitglieder war das ein gewinnbringender Diskurs. Wir
spüren es längst: Es ist nicht genug zu sagen, Antisemitismus hätte keinen Platz in unserem Land. Die
Menschenfeindlichkeit hat sich ihren Platz gesucht. Wir müssen uns fragen, wie wir Antisemitismus jetzt und
in Zukunft überwinden können. Darüber müssen wir sprechen – mit allen, denen dieses Gespräch am Herzen
liegt. Sprechen über Antisemitismus und Sprechen über eine lebenswerte Welt für alle, das ist dasselbe
Gespräch.

Das Pogrom der Hamas am 7. Oktober, die Bilder aus Gaza, die Nachricht, dass Rechtsextreme und Neonazis
die Deportation von Millionen Menschen aus Deutschland planen, überlagern sich mit den inneren Bildern
der Vergangenheit. Dass sich Jüdinnen und Juden, die sich Brandenburg als Lebensort gesucht haben, nicht
mehr sicher fühlen bei uns, das ist unerträglich.
Wenige Tage nach dem Terroranschlag der Hamas sprach der israelische Philosoph Omri Boehm auf dem
Münchener Literaturfest über universalistischen Humanismus, der ein Überwinden der Logik von Krieg und
Gewalt ermöglicht. Er erinnerte an Martin Bubers und Franz Rosenzweigs Übersetzung des Tanach, der
Hebräischen Bibel – für Christen das Alte Testament 1926-1929 von beiden gemeinsam begonnen, nach dem
frühen Tod Rosenzweigs von Martin Buber fortgesetzt. Sie wollten, dass deutsche Juden den Tanach in
deutsch lesen können, aber nicht in der christlichen Luther-Übersetzung, sondern in einer neuen
authentischen Sprache, mit jüdischen Wurzeln. Martin Buber und Franz Rosenzweig wollten den deutschen
Juden eine Identität geben: selbstbewusst, deutsch und jüdisch zugleich.

Und eine zweite Übersetzung ist wichtig: Nach dem Krieg, nach der Shoa übersetzten zwei deutsche Juden in
Israel, Nathan Hugo Rotenstreich und Hugo Bergmann, 1953 Kants "Kritik der reinen Vernunft" ins
Hebräische, um einen aufgeklärten, selbstkritischen Zionismus zu ermöglichen. Eine Idee, die damals wie
heute in Bedrängnis gerät. Der kühne Traum von einer jüdisch-deutschen-europäischen Identität. Hier treffen
sich Kant und die jüdische Tradition, die Philosophie der Aufklärung und die Weisheit der Propheten: Freiheit,
Verantwortung und die grundlegende Einsicht, dass Menschsein dem Menschen keineswegs natürlich ist,
sondern Aufgabe und Prüfung in schwierigen Zeiten.

Vielleicht kann das ein Zukunftsbild sein von einem weltoffenen menschenfreundlichen, von einem freien,
europäischen demokratischen Deutschland.
Die Gesellschaft für christlich-Jüdische Zusammenarbeit setzt sich seit ihrer Gründung 1993 dafür ein, dass in
Potsdam nie wieder Juden und Menschen anderer Religionen und Kulturen benachteiligt oder verfolgt
werden. Die Brandenburgische GZJZ engagiert sich für die Verständigung zwischen Christen und Juden,
erinnert an die Ursprünge und Zusammenhänge von Christentum und Judentum, bewahrt noch erhaltenen
Zeugnisse jüdischer Geschichte. All das ist ein großes Geschenk für uns in Brandenburg. Und ich möchte
herzlich Dank sagen für dieses Engagement.

Der Bau der neuen Synagoge ist ein wichtiges Signal, weit über Potsdam und Brandenburg hinaus. Es wird
Zeit, dass die Jüdischen Gemeinden, dass Jüdinnen und Juden ein eigenes Zentrum in unserer
Landeshauptstadt haben werden. Mir geht es da wie vielen Anderen: Ich freue mich auf die religiösen,
gesellschaftlichen und kulturellen Impulse, die von dieser Synagoge in unserer Mitte ausgehen werden. Ich
danke allen Beteiligten, die sich dafür beharrlich eingesetzt haben, konstruktiv und auch kritisch. Mein Dank
gilt insbesondere dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, und dem Präsidenten der
Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, Abraham Lehrer, die in einer engagierten und emotionalen Debatte
Vermittlerrolle übernommen haben.

(Anrede)
Ich denke, wir brauchen neue Allianzen zwischen säkularer Vernunft und Religionen in unserer Gesellschaft,
das Miteinander gegen Polarisierung und Ausgrenzung, das nicht gottgegeben da ist, sondern immer wieder
neu entwickelt werden muss.

Religion als Ressource für eine moderne Gesellschaft. Da geht es um Vertrauen und Gnade, um Mut und
Freiheit. Die Würde des einzelnen Menschen, Zuversicht, Hoffnung. Frieden.
Aus christlicher Perspektive brauchen wir nach wie vor eine fundamentale Auseinandersetzung mit
antijüdischen Denkmustern, mit Symbolen.

Unsere leitenden Interessen für den Dialog sind nicht identisch. Christen können ihre Identität nur
bestimmen, wenn sie reflektieren über ihr Verhältnis zum jüdischen Glauben, Juden brauchen das nicht. Das
macht den jüdisch-christlichen Dialog so existentiell für Christen und ich denke auch für Agnostiker. Deshalb
sind die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit so wichtig. Das Potential an Zukunft liegt in
den Unterschieden; in der Beschreibung unserer Welt, im Umgang mit der Krise, im Bild vom Menschen und
seinen Möglichkeiten, in der Frage nach Gott.

In diesem Jahr christlich-jüdischer Zusammenarbeit geht es um Musik. Die schönste Sprache der Welt, eine
universelle Sprache, die Menschen verbindet, unabhängig von Herkunft, Identität, Religion. Eine Sprache von
ästhetischer und geistiger Erfahrung, von Resonanz, Harmonie, Schönheit, aber auch von großen
Gegensätzen, die nicht immer überwunden werden, die wir aushalten müssen. Nicht immer gibt es
Auflösung. So wie in der Philosophie und auch in Religionen. Gibt es jüdische Musik? Oder ist sie nicht
vielmehr eine sich permanent verändernde, auch erneuernde Symbiose unterschiedlicher regionaler
Einflüsse, allem Nationalen weit überlegen?

Voller SOZIALER ENGERGIE, wie Hartmut Rosa sagen würde. Eine Energie, die aus gemeinsamen Aktivitäten
und wie von selbst entsteht – beim Musizieren, im Gespräch oder in einer guten Zusammenarbeit. Nicht so,
dass die einen investieren und die anderen profitieren. Alle investieren und alle profitieren. Alle gewinnen
Zuversicht, Freundlichkeit, Phantasie, Ideen, neue Impulse. Wie bei einem gelingenden Gespräch. Alle sind
danach beflügelt und es fühlt sich an, als hätte sich alles wie von selbst ergeben. Soziale Energie wirkt im
Momentum politischer Ideen wie in der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen. Im Zustand individueller
und kollektiver Erschöpfung kann soziale Energie die Gesellschaft neu beleben. Eigentlich kennen wir alle
diese soziale Energie des Gelingens. Wir erleben sie in der Musik.

Vielen Dank!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Rede von Prof. Dr. Ulrike Liedtke für den Neujahrsempfang der Überparteilichen Fraueninitiative Berlin -
Stadt der Frauen e.V. am 28. Februar 2024, Abgeordnetenhaus von Berlin

Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin, liebe Baham Haghanipor,
sehr geehrte Frau von Braun,
Sehr geehrte Frauen der Überparteilichen parlamentarischen Fraueninitiative
meine sehr verehrten Damen,

Die letzte Rednerin ist die Nachbarin, ich überbringe Grüße aus Brandenburg. Wir waren die ersten, die ein
Parité-Gesetz beschlossen hatten. Als es Verfassungsrichter und -richterinnen kippten, gründete sich die erste
Überparteiliche parlamentarische Fraueninitiative in Brandenburg. Projekt Nr. 1 war ein Neujahrsempfang für
Frauen in der Kommunalpolitik – alle versicherten: wir kommen wieder!

Frauen parlamentarisch überparteilich zusammenzuführen, überholte Rollenbilder zur Stellung der Frauen zu
entlarven, Verbündete im Parlament zu suchen, politische Vorurteile gegenüber anderen Abgeordneten im
Parlament zu überwinden, um überparteilich zu handeln: diese immer noch aktuellen Motive waren
ausschlaggebend für die Gründung ihres überparteilichen Netzwerkes im Jahr 1992 - angestoßen von Ihnen,
sehr verehrte Frau von Braun.

Und es ist kein Zufall, dass diese Initiative Ihren Neujahrsempfang in den Räumen des Abgeordnetenhauses
ausrichtet. Hier – in der Herzkammer der Politik - ist sie aus der Mitte des Parlaments entstanden und hier
gehört sie hin.
Ihre Idee, Entscheidungsträgerinnen aus dem Parlament, der Landesregierung, aus Gewerkschaften, der
Wissenschaft, der Kultur, aus Frauenprojekten, Medien, und weiteren Bereichen des öffentlichen Lebens
zusammenzuführen ist vorbildhaft. Sie ist notwendiger denn je, auch aus der Brandenburger Perspektive.
In den Kreistagen und Stadtverordneten-versammlungen Brandenburgs liegt der Frauenanteil
durchschnittlich bei weniger als einem Drittel, in manchen Kommunen gar bei nur einem Zehntel. Der Anteil
von hauptamtlichen Bürgermeisterinnen beträgt in Brandenburg rund 18 Prozent – immer noch mehr als der
bundesweite Durchschnitt von 10 Prozent Frauen im Amt der Bürgermeisterin, aber auch viel weniger als zu
DDR-Zeiten.

Aber wer rechnet schon unsere Arbeit in Prozent aus? Männer. Nicht die Frauen müssen sich verändern,
sondern die Bedingungen unter denen Politik stattfindet, gemacht von Männern, also: Männer.
Das Bedürfnis von Frauen in kommunalpolitischen Ämtern, sich gegenseitig zu vernetzen, ist groß. Im Januar
lud ich zur Gründung eines Bürgermeisterinnen-Netzwerkes in den Landtag ein. Wohlmeinende Beratungen
prognostizierten: Zwei Jahre wird es dauern, bis das Netzwerk arbeitet. Als ausreichend haupt- und
ehrenamtliche Bürgermeisterinnen aus Brandenburg leidenschaftlich miteinander diskutierten, hab ich
gefragt: Können wir nicht heute schon das Netzwerk gründen? Allseits Zustimmung.
Man kennt sich. So viele sind wir auch wieder nicht. Das Bürgermeisterinnen-Netzwerk besteht seit dem
19.1.2024.

Noch immer werden Bürgermeisterinnen anders als ihre männlichen Kollegen behandelt - in Bezug auf
Leistung, Verhalten oder Aussehen. Davon können Sie, sehr verehrte Frau von Braun, eine Menge erzählen. In
dem Dokumentarfilm „Die Unbeugsamen“ stehen Sie für eine Zeit, in der sich Frauen im Bundestag ihren
Platz erkämpfen mussten. Spöttische Zwischenrufe, Gehässigkeiten und offener Sexismus – die weiblichen
Abgeordneten mussten viel einstecken.

Das hatte ich mir so nicht vorgestellt. Meine Idole in Leipzig, Erfurt, Stralsund und Berlin waren Literatinnen,
Sängerinnen, Tänzerinnen, Dirigentinnen, Wissenschaftlerinnen - keine Politikerinnen. Aber damals stellte ich
mich auch selbstbewusst als Musikwissenschaftler vor - und verstand gar nicht, dass ich umdenken sollte.
Als wir uns vor zwei Jahren im Landtag kennenlernten, haben wir darüber gesprochen, auch über die
Notwendigkeit einer überparteilichen Vernetzung von Politikerinnen.

Wenn die Hälfte der Bevölkerung Frauen sind, ist die gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen ein
demokratisches Gebot. Das heißt: Ohne Geschlechterparität bleibt die Demokratie unvollendet.
Wir wollen den Worten und den Vorgaben von Grundgesetz und Landesverfassung Taten folgen lassen.
Frauen und Männer müssen nicht nur rechtlich, sondern ganz praktisch gleichen Einfluss auf die Geschicke
und Gesetze unseres Landes haben!

Liebe Frau von Braun,

mit der von Ihnen vor über 30 Jahren angestoßenen Gründung einer überparteilichen Fraueninitiative ist es
Ihnen gelungen, Frauen unterschiedlicher Weltanschauungen und Lebenserfahrungen, verschiedener
frauenpolitischer und feministischer Vorstellungen, aus Ost und West zusammenzubringen, um dadurch
politische Erfolge für die Frauen in Berlin zu erreichen.

Dies setzt erkennbar viel diplomatisches Geschick voraus. Als Diplomatentochter, in Kenia geboren, wurden
Ihnen dieses Geschick gewissermaßen in die Wiege gelegt. Aber das ist nur eine Seite Ihrer Persönlichkeit.
Politikerin, Frauenrechtlerin: in Ihrer Biografie spiegelt sich das Ringen um Gleichberechtigung der Frauen mit
Höhen und Tiefen, nicht nur diplomatisch, sondern immer auch konsequent.

Heute werden Sie von Ihrer Sprecherin-Funktion verabschiedet, die sie den langen Zeitraum von 30 Jahren
ausgeübt haben. Als „neuere Weggefährtin“ danke ich Ihnen für interessante Gespräche und Anstöße.
Den persönlichen Kontakt verlieren wir nicht – es gibt noch viel zu tun: die Frauenvernetzung in Berlin-
Brandenburg, in Deutschland, in Europa und weit darüber hinaus. Alles Gute und bis bald!

Vielen Dank!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Potsdam bekennt Farbe!
Aktionstag Brandmauer um den Brandenburger Landtag, Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke auf
dem Alten Markt Potsdam, 3.2.2024

Liebe Demokratinnen und Demokraten,
lieber Bürgermeister Mike Schubert!

An vielen Orten in Potsdam könnte man demonstrieren. Sie haben sich den Landtag Brandenburg ausgesucht – die Herzkammer der Demokratie in unserem Land.
Schön, dass Sie alle da sind. Ich freue mich darüber und begrüße Sie alle ganz herzlich.

Wir sind gekommen um Haltung zu zeigen für Demokratie, für Vielfalt, Weltoffenheit, Meinungsfreiheit. Die letzten so großen Demonstrationen gab es 1989, die Menschen sind wieder auf der Straße, weil es um dasselbe Ziel geht: um Demokratie. Damals haben wir uns im Osten die Demokratie errungen, jetzt müssen wir sie schützen!

Deshalb sagen wir NEIN
- zu Rechtsextremismus,
zu Antisemitismus,
- zur Ausweisung von Menschen anderer Herkunft, die friedlich mit uns leben wollen,
- zum Rechtsruck der Politik, den unsere polnischen Nachbarn gerade hinter sich gelassen haben.

Wir wollen keine Ein-Parteien-Herrschaft, wie gerade von einem Abgeordneten dieses Landtages öffentlich und verfassungswidrig in Aussicht gestellt wurde. Genau hier steht die Brandmauer!

Liebe Demonstrantinnen und Demonstranten,
für mich ist es unvorstellbar, dass sich Nationalisten und Rechtsextreme treffen und menschenverachtende Pläne schmieden. Das ist verirrt, das ist verwirrt, das ist krank.
Das dürfen und werden wir nicht zulassen!

In der Dauerausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland versperrt ein schwarzer Kubus den Besuchern den Blick. Das ist Schmerz, der im Weg steht.
Er mahnt unsere Verantwortung an, die aus unserer eigenen Geschichte kommt, die - gerade so kurz nach dem Holocaust-Tag - wehtut, aber zu unserer Identität gehört. Wir haben Verantwortung als Zukunftsaufgabe aus deutscher Geschichte, gerade in einer Zeit, da unsere bisherigen Gewissheiten nicht mehr ausreichen.

Krisenmodus war das Wort des Jahres 2023, für 2024 schlage ich vor: Zuversicht!
Dabei weiß ich, dass nicht alle immer zufrieden sind mit dem, was der Landtag beschließt und die Regierung tut. Auch manche Gesetze oder Sparmaßnahmen werden kritisch gesehen. Aber Kritik gehört zur Demokratie dazu. Wir können nicht in allen Fragen einer Meinung sein. Das wäre ja auch langweilig. Aus Kritik wachsen bessere Lösungen. Friedliche Demonstrationen, Proteste und Streiks sind Ausdruck einer lebendigen, funktionsfähigen Demokratie und einer selbstbewussten Bevölkerung.

Hier um den Landtag herum stehen Konservative und Linke, Grüne und Liberale, Sozialdemokraten und Christdemokraten; Menschen aus unterschiedlichen Berufen, Alte und Junge, viele Kinder habe ich gesehen. Die Demonstrationen der letzten Wochen zeigen:
Die ganz große Mehrheit denkt und fühlt demokratisch.
Eine schweigende Mehrheit gibt es nicht mehr.

Aber lauter müssen wir noch werden: widersprechen, wenn im Alltag gefährlicher Unsinn erzählt wird, im Betrieb, in der Uni, der Schule, manchmal sogar in der Familie. Wir müssen Verunsicherung entgegentreten, Verschwörungstheorien entkräften. Denn wir können uns politisch einbringen. Aber auch zuhören, wenn uns andere Ansichten begegnen, sich auseinandersetzen, überzeugen; und eine Brandmauer bilden, wenn alles andere nicht geht und Demokratie gefährdet wird.

Suchen Sie sich IHRE Gesprächspartner, IHRE politische Heimat, vielleicht eine Partei, wählen Sie einen demokratischen Bürgermeister oder eine Bürgermeisterin, gehen Sie in Gemeinderäte und Stadtverordnetenversammlungen.
Denn WIR gestalten die Demokratie, die Volksherrschaft, die Minderheiten schützt.
Sie haben es in der Hand, wie sich Brandenburg entwickelt.

Und - das ist mir ganz wichtig - wir sind nicht nur deutsch, wir sind Europäer, Nachbarn!

Liebe Freundinnen und Freunde!

Wir sind viele – hier in Potsdam, in zahlreichen anderen Städten und natürlich in Berlin, wo heute eine riesige Kundgebung stattfindet; auch dort mit einer Brandmauer um das Parlamentsgebäude herum.

Diese Demonstration verpflichtet uns alle und besonders die gewählten Landtagsabgeordneten
• zu guter, friedlicher Politik,
• zu Auseinandersetzungen und Entscheidungen zum Gemeinwohl, für Bürger und Bürgerinnen,
• zur Weiterentwicklung von Demokratie durch Bürgerbeteiligungen
• und letztlich zu einem toleranten, weltoffenen Brandenburg.

Vielen Dank!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Eröffnung der Jahresausstellung
„[K]ein Kernbestandsdepot für Künstlernachlässe im Land Brandenburg“, Private Künstlernachlässe im Land Brandenburg e.V., 30. Januar 2024
Begrüßung durch Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke

Sehr geehrte Abgeordnete und Regierungsmitglieder,
Angehörige von Künstlerinnen und Künstlern,
liebe Kuratoren Dr. Liane Burkhard und Thomas Kumlehn sowie Mitglieder des Vereins Private Künstlernachlässe in Brandenburg,
sehr geehrte Frau Prof. Dr. Dorothea Haffner,
sehr geehrter Herr Dr. Jürgen Danyel,
sehr geehrte Medienvertreter,
liebe Gäste!

Was wird aus der Kunst, wenn die Künstlerin, der Künstler nicht mehr ist?
Wer würde sich der Kunstschaffenden erinnern, wenn ihre Werke nicht mehr gesehen werden könnten?
Wie also können wir diese Werke, ihre Gedankenwelt und die Erinnerung an kreative Menschen bewahren – weil sie wertvoll sind, für uns und die nach uns Kommenden?

Diese Fragen standen vor mehr als zwölf Jahren am Anfang eines Projekts, dessen Erfolge und Herausforderungen wir über die nächsten Monate im Landtag vorstellen:
Dr. Liane Burkhardt und Thomas Kumlehn starteten damals ihre Initiative, Nachlasshalter im Land Brandenburg zu unterstützen. Ihnen und ihren Mitstreitern im Verein Private Künstlernachlässe verdanken wir und die Kunstwelt viel! Ich möchte Frau Burkhardt und Herrn Kumlehn deshalb besonders herzlich begrüßen.

Sie entwickelten ein digitales Erfassungsformular als „Werkzeug“ zur Erfassung von Künstlernachlässen. Unterstützt wurden sie dabei von der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft und vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam – auch ihnen ist zu danken! Im Mai 2014 ging die Datenbank mit dem ersten Werkverzeichnis des Malers Philipp Schack online.
Der Verein „Private Künstlernachlässe Brandenburg“ mit seinen 24 Gründern – alle vom Fach – und weiteren ebenso fachkundigen wie engagierten Mitgliedern sorgt für Erhalt und Pflege der regionalen Kunst. Das klingt einfach und ist doch so viel. Die Vereinsmitglieder stärken das kulturelle Gedächtnis und somit die Identität unserer Region.

Gerade in dieser kurzatmigen Zeit ist das etwas ganz Besonderes, denn „Zukunft braucht Herkunft“, schrieb der Philosoph Odo Marquard 2003. Matthias Platzeck, unser ehemaliger Ministerpräsident, griff diesen Titel auf für sein Buch Deutsche Fragen, ostdeutsche Antworten.

Einen Beitrag zu diesen Antworten liefern die Künstlernachlässe im Land Brandenburg, von denen einige nun hier im Parlament zu sehen sind:
Mehr als 100 Werke aus 18 Kernbeständen, die der Verein betreut; insgesamt sind es gut 30 Nachlässe. Die Jahresausstellung gibt so einen Einblick in den Nachlass Brandenburger Künstlerinnen und Künstler und ebenso in die Arbeit derjenigen, die diese Werke für die Nachwelt erhalten.

Und sie wirft etliche Fragen auf:
Wie geht unsere schnelllebige Zeit mit Kunst aus den letzten fünfzig Jahren um?
Wie bewahren, zeigen und bewerten wir sie?
Was ist der KERNbestand, den man doch nur ausweisen kann, wenn das gesamte Werk bekannt ist?
Wohin mit diesem Kernbestand?

Auch die digitale Aufarbeitung ist ein Thema. Erst die wissenschaftlich fundierte digitale Erschließung der Vor- und Nachlässe ermöglicht ihre Einbindung in die Personen-, Kunst- und Zeitgeschichte. In einem eigens vorbereiteten Resonanzraum in der Jahresausstellung soll es darum gehen, in welcher Form das am besten weiterentwickelt und was dazu erforderlich sein wird.

Anrede,

Die Brandenburger Initiative für den Erhalt, die Pflege und die Sichtbarmachung von Künstlernachlässen ist Vorbild für ähnliche Projekte in Deutschland. Schon deshalb kommt der Initiative, dem Verein und auch dieser Ausstellung eine große Aufmerksamkeit und Bedeutung zu, weit über unser Land hinaus.

Zunächst aber freuen wir uns darauf, die Werke von Heinz Böhm und Gudrun Bröchler-Neumann sehen zu können, von Rainer Fürstenberg und Magda Langenstraß-Uhlig, von Margarete Martus, Becky Sandstaede, Werner Stötzer und vielen anderen.

Und ich freue mich, dass Frau Professorin Dr. Dorothea Haffner von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin sowie Herr Dr. Jürgen Danyel vom Leibniz-Zentrum uns fachkundig in die Ausstellung mitnehmen.

Nicht zuletzt möchte ich den beiden Musikern danken, die diese Vernissage mit den „Engen Verbindungen“ von Georg Katzer begleiten. Ein musikalischer Nachlass.

Während Bilder an der Wand hängen oder zumindest in einem Archiv zu sehen sind, müssen Noten erst gespielt werden, um zu erklingen. Für den Zeuthener Georg Katzer war Musik Kommunikation, sieben Dialoge imaginär gehören zu seinen gut 200 Werken bis 2019.

Stücktitel haben Bedeutung: „Kommen und Gehen“ 1981, „miteinander – gegeneinander“ 1983, Protestlied gegen die Inhaftierung von Demonstranten 1989, „Mon 1789“ und Mein 1989, „Offene Landschaften mit obligatem Ton e“ 1990 (e wie Erwartung, Einheit, Ende), „Schrittweise Auflösung harmonischer Verhältnisse“ 1998, zuletzt „Discorso“ - uraufgeführt am Silvesterabend 2018 vor Beethovens 9. Sinfonie im Konzerthaus Berlin mit dem RSO unter Vladimir Jurowski. Katzer wollte „Den Geist der verloren gehenden Diskursivität beschwören.“ Was für eine Vorahnung! Denn „Enge Verbindungen“ – entstanden 1999 - kann es zwischen sehr unterschiedlichen Partnern geben, wenn sie sich allmählich und tiefgründig einander annähern wie die Klänge von Akkordeon und Bassklarinette, 14 Minuten, für Christine Paté und Matthias Badczong komponiert.

Anrede,

Ich wünsche Ihnen einen anregenden Abend,
der Ausstellung viel Aufmerksamkeit und
allen Besucherinnen und Besuchern eine gute Zeit im Landtag Brandenburg.

Vielen Dank!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus – Internationaler Holocaust-Gedenktag 2024, 29.1.2024,
Gedenkstätte Sachsenhausen
Rede der Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke

Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Herr Bartnikowski,
Schön, dass Sie nach Sachsenhausen gekommen sind, um mit uns den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und den 80. Jahrestag des Warschauer Aufstands zu begehen.

Besonders begrüßen möchte ich die Angehörigen der Überlebenden, die Damen und Herren Abgeordneten des Brandenburger Landtages, des Kreistages, der kommunalen Vertretungen sowie Frau Ministerin Nonnemacher,
Frau Staatssekretärin Henke aus Berlin und Frau Staatssekretärin Dr. Töpfer aus Brandenburg.

Herzlich begrüße ich den Landrat des Landkreises Oberhavel Herrn Tönnies und den Bürgermeister von Oranienburg Herrn Laesicke, die Vertreterinnen und Vertreter von Bundeswehr und Polizei. Vielen Dank, dass Sie wieder bei diesem Gedenken dabei sind.

Ich begrüße die Vertreterinnen und Vertreter der diplomatischen Missionen und der zivil-gesellschaftlichen Verbände, Initiativen, Vereinigungen, Gewerkschaften und Parteien, den Leiter der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und seine Stellvertreterin, Herrn Dr. Drecoll und Frau Dr. Ley.

Und herzlich willkommen heißen möchte ich auch die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Panketal, von denen wir heute noch hören werden.

Kennen Sie Krzysztof Kamil Baczyński?
Er war 23, ein Dichter, Hoffnung der polnischen Literatur, einer von Hunderten polnischen Jugendlichen, die in den Straßenkämpfen des Warschauer Aufstands 1944 für die Freiheit des polnischen Volkes und gegen die nationalsozialistischen Besatzer kämpften.
In den ersten Tagen des Warschauer Aufstands und wenige Tage vor seinem Tod schrieb er in sein Notizbuch:

Sie trennten dich von Träumen, Sohn …
Sie malten eine Landschaft dir aus Bränden
Sie strickten Augen dir, die rot verbluten …
mit Gehängten säumten sie den Fluss
…“

Meine Damen und Herren,
an Krzysztof Baczyński, und an alle Opfer des Warschauer Aufstands 1944 wollen wir heute anlässlich des Holocaust-Gedenktages erinnern.

Es ist mir eine ganz besondere Freude, dass Sie, lieber Herr Bartnikowski heute bei uns sind und zu uns sprechen werden. Für uns alle hier ist es von besonderem Wert, Ihre Geschichte zu hören.

Lesend, hörend, erinnernd vergegenwärtigen wir uns, was geschehen ist, vergegenwärtigen wir uns die Schicksale der Opfer - am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, am 8. Mai, am 9. November, wie an vielen Tagen im Jahr, wenn unsere Wirklichkeit plötzlich und auf unerträgliche Weise die Erinnerung wachruft.

Wir haben es mit einer unerträglichen Situation zu tun, wo das Unmögliche notwendig ist …“, sagte Omri Boehm, deutsch-israelischer Philosoph, ehemaliger Mitarbeiter des israelischen Geheimdienstes, der im März dieses Jahres für sein Buch „Radikaler Universalismus. Jenseits der Identität“ den Buchpreis für europäische Verständigung der Leipziger Buchmesse erhalten wird. Omri Böhm hat die Vision von einem Israel für Juden und Palästinenser entworfen und streitet leidenschaftlich für diesen Traum.

In einer unerträglichen Situation wird das Unmögliche notwendig.
Was für eine Tiefe liegt in diesem Satz.
Eine ermutigende Wahrheit, die aufleuchtet, wenn Boehm sagt, dass sich aus der Anerkennung der Einzigartigkeit des Holocaust für uns in Deutschland eine universelle Verpflichtung für die Menschenrechte ableitet.

Wir können die Begreifbarkeit des Nationalsozialismus erlernen und dem Unerträglichen mit der Kraft des Unmöglichen antworten. Vielleicht sind wir schon mitten in einem neuen Anfang.

Wir können gar nicht anders, als die Erinnerung wachhalten. Das wollen auch Schülerinnen und Schüler vom Gymnasium Panketal, die heute dieses Gedenken mitgestalten und mit uns ihre Erfahrungen teilen werden, die sie in der Auseinandersetzung mit Objekten aus den Depots der Gedenkstätte Sachsenhausen im Kontext des Warschauer Aufstands 1944 gesammelt haben.

Der Gefallenen des Warschauer Aufstands durfte im sozialistischen Polen nicht gedacht werden. Erst 1989 wurde auf dem Warschauer Krasiński-Platz ein Denkmal für den Aufstand eingeweiht. Mittlerweile erinnern jedes Jahr am 1. August Gedenkfeiern in ganz Warschau an den Aufstand und seine Opfer.

Begonnen hatte der Aufstand am 1. August 1944, nur etwa ein Jahr nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto.

Mehr als 40.000 Kämpfer der Armia Krajowa (der "Polnischen Heimatarmee"), unter Ihnen viele Jugendliche wie Krzysztof Baczyński, wollten in wenigen Tagen ihre Heimatstadt Warschau befreien.

Schnell hatten sie die halbe Stadt unter Kontrolle. Am 1. Tag wehten polnische Flaggen an den Toren der befreiten Straßen. Wenige Tage später bombardierten deutsche Soldaten die Stadt und legten die befreiten Viertel in Schutt und Asche, erschossen Frauen, Kinder, Babys. Krzysztof Baczyński, der junge Dichter vom Warschauer Aufstand klagt:

O meine Jungen, wie können wir Welten erlösen durch eine einzige zerrissene Seele“ -
und in einem anderen Gedicht:

Denn die Körper der Knaben kommen nicht mit
und die Finsternis steht und donnert und donnert.“

Wie sollte ein junger Dichter die Nationalsozialisten in ihrem Hass und Wahn aufhalten!

Der Warschauer Aufstand erzählt Geschichten von Heldenmut. Aber auch entsetzliche Geschichten von Leid und Tod. Geschichten, die uns das Herz schwer machen. Dennoch sind sie Teil der Wirklichkeit. Genauso wie unsere Sprachlosigkeit, unser Verstummen, das Leid der Opfer und das Leid der Überlebenden. Sprachlosigkeit kann dem Schmerz ausweichen.

Aber der Schmerz lässt sich nicht überspringen. In der Dauerausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland versperrt ein schwarzer Kubus den Besuchern den Blick. Wie der schwarze Kubus stellt sich der Schmerz in den Weg.
Er mahnt unsere Verantwortung an. Diese Verantwortung, die aus unserer eigenen Geschichte kommt, gehört zu unserer Identität, ist eine Zukunftsaufgabe, gerade in einer Zeit, da unsere bisherigen Gewissheiten nicht mehr ausreichen.

Zukunftsangst, Krieg in Europa, Terroranschlag auf Israel. Krieg in Gaza. Die Überforderung, sich in der Unübersichtlichkeit der Konflikte dieser Welt ethisch zu orientieren, ohne die Schreckensereignisse durch Vergleich und Einordnung zu relativieren.

Die neuen Schreckensbilder vom Pogrom der Hamas am 7. Oktober, die Bilder aus Gaza, die Nachricht, dass Rechtsextreme und Neonazis die Deportation von Millionen Menschen aus Deutschland planen, überlagern sich mit den verstörenden inneren Bildern der Vergangenheit. Ohne Kontext geht es nicht.

Der Eindruck von Hilflosigkeit gegenüber dem Geschehen, Ohnmacht, Müdigkeit gegenüber eigenen Zukunftsperspektiven und den Perspektiven der Demokratie. Ganze Gruppen fühlen sich nicht mehr gehört, nicht mehr wahrgenommen.

Wir spüren es längst: Es ist nicht genug zu sagen, Rechtsextremismus, Antisemitismus hätten keinen Platz in unserem Land. Die Menschenfeindlichkeit hat sich ihren Platz gesucht.

Es ist nicht mehr genug, zu sagen: nie wieder. Wie haben es schon zu oft gesagt. So viele wichtige Projekte für Demokratie, gegen Rechtsextremismus, gegen Antisemitismus, unser Handlungskonzept Tolerantes Brandenburg, unser Bündnis für Brandenburg, Erinnerungsarbeit an Schulen. Nichts davon vergebens, aber auch noch mehr davon genügen nicht.
Wir müssen uns fragen, wie die Kraft der Erinnerung die Müdigkeit gegenüber der Demokratie überwinden kann. Dafür brauchen wir öffentliche Räume, ein Forum Erinnerungskultur, wo Geschichten der Opfer erzählt werden und lebendig bleiben, wo ein kulturelles Gedächtnis entsteht und aus ihm Entwürfe für die Zukunft.

Das ist unsere Aufgabe hier in Brandenburg, wo die Orte des Schreckens und der Erinnerung - Ravensbrück, Sachsenhausen, Lieberose, Belower Wald - vor unserer Haustür liegen.

Fast eine Million Menschen sind an den letzten beiden Wochenenden in deutschen Städten für Demokratie auf die Straße gegangen. Viele zum ersten Mal in ihrem Leben. In Hamburg, München, Köln. Dresden und Leipzig. In Berlin, in Potsdam, in Cottbus, aber auch in vielen kleinen Städten.

Die größten Demonstrationen seit der Friedlichen Revolution 1989. Menschen zeigen, dass Demokratie wehrhaft sein muss, dass aus Wahlumfragen nicht Wahlergebnisse werden müssen.

Es ist unabweisbar, dass Demokratie täglich neu erstritten werden muss, in Stadtverordnetenversammlungen, Gemeindevertretungen, im Kreistag und

Landtag, in jedem politischen Amt, aber ebenso in Schulen, Sportvereinen und Unternehmen. Sich engagieren für Demokratie, das können alle Bürgerinnen und Bürger.

Die kollektive Kraft, die dafür notwendig ist, nennt der Jenaer Philosoph Hartmut Rosa SOZIALE ENGERGIE. Eine Energie, die aus gemeinsamen Aktivitäten und wie von selbst entsteht – beim Musizieren, im Gespräch oder in einer guten Zusammenarbeit.

Nicht so, dass die einen investieren und die anderen profitieren, sondern gerade andersherum. Alle investieren und alle profitieren an Zuversicht, Freundlichkeit, Phantasie, Ideen, neuen Impulsen. So wie bei einem gelingenden Gespräch.

Der junge Dichter von 500 Gedichten, Krzysztof Baczyński, träumte von seiner schönen Frau und wurde patriotischer Soldat, im Dienste des Volkes. Seine Epochenbeschreibung ist ebenso schlicht wie wahrhaftig:

Man lehrte uns, es gibt kein Mitleid.
Man lehrte uns, es gibt kein Gewissen.
Man lehrte uns, es gibt keine Liebe.“


Er fiel am 4. August 1944 im Warschauer Aufstand. Lassen Sie uns Mitleid, Gewissen und Liebe lehren, leben und in uns selbst erkennen.

Vielen Dank.

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Parlamentarischer Abend der Landtagspräsidentin für Vertreter der Medien, 24.1.2024,
Rede von Prof. Dr. Ulrike Liedtke

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Dietmar Woidke,
sehr geehrter Herr Lassiwe, sehr geehrte Mitglieder der Landespressekonferenz,
sehr geehrte Frau RBB-Intendantin Demmer,
sehr geehrte Abgeordnete und Regierungsmitglieder,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Medien, der Justiz, der Bundeswehr,
der Kirchen, der Parteien, Institutionen und Verbände,
sehr geehrte Gäste!

Demokratinnen und Demokraten demonstrieren für Demokratie. Eine Million Menschen in
ganz Deutschland. Was für eine Politisierung, was für ein Zeichen, kein Ohnmachtsgefühl,
stattdessen Engagement, das verbindet!

Auch Bauern, Handwerker, Mittelstand und Speditionen bringen sich zivilgesellschaftlich ein, sie vereint der Slogan „Gemeinsam ein Zeichen setzen“. Die Proteste, Straßensperren und Blockaden fanden breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Unzufriedenheit hat sich angestaut, auch Wut, die sich in Demonstrationen entladen muss. Die Ursache ist ein Vertrauensverlust in die Politik – Vertrauen darauf, dass Politiker und Politikerinnen richtige Entscheidungen treffen. Die Lasten, die der einzelne Bürger, die einzelne Bürgerin zu tragen hat, werden als ungerecht empfunden. Andererseits - fehlt die Anerkennung für geleistete Arbeit in der Gesellschaft, etwa für den ökologisch orientierten Umbau in der Landwirtschaft, für die Abarbeitung voller Auftragsbücher der Handwerker trotz Fachkräftemangels, für den Erhalt kleiner Betriebe, die besonders unter Kürzungen von Zuschüssen zu leiden haben, für Lehrer in großen Klassen und Ärzte vor der Krankenhausreform.

Viele Forderungen richten sich an den Bund. Aber Zuständigkeiten interessieren nicht, wenn Arbeit zu erledigen ist. Außerdem wirken sich Bundesentscheidungen auch auf Brandenburg aus.

Gerade jetzt muss der Landtag wach sein, Haltung zeigen, ein Fels in der Brandung sein. Der Ministerpräsident macht es ja auch und zur Grünen Woche am Montag gab es keine Proteste an der Brandenburg-Halle.

Der Jubel über ziviles Engagement darf nicht zu übermütig werden, denn wir müssen uns fragen: Warum finden Rechtextreme und Populisten so viel Zustimmung? Weil Gewissheiten in Frage gestellt werden. Weil der demokratische Diskurs Zeit braucht, zu lange für Ungeduldige, weil er das einander Zuhören voraussetzt.

„Unsere Botschaft muss stärker sein als je zuvor!“- sagt Daniel Barenboim, Begründer des West-eastern Diwanorchesters, halb und halb arabisch und jüdisch besetzt. Musik hören und verstehen, Politik hören und verstehen.

Je unrunder sich das Weltmühlenrad dreht, um so ruhiger, verantwortungsvoller, sachlicher muss es im Landtag zugehen. Umso ruhiger, verantwortungsvoller, sachlicher reagiert gute Presse.

Freie Medien sorgen dafür, dass Bürgerinnen und Bürger Zugang zu den Informationen haben, die sie brauchen, um sich eine eigene Meinung zu bilden, sich auseinanderzusetzen und Politik mitzugestalten.

Freie Medien verbinden Bürger und Politik, stellen täglich - und online noch viel öfter - den Kontakt zwischen beiden Seiten her, schaffen den Resonanzraum des gegenseitigen Zuhörens. All das Unbequem sein, Nachfragen, die Kritik sollten wir in der Politik nicht nur aushalten, sondern wertschätzen. Ins Gespräch eintreten, miteinander streiten, einander zuhören. Den Automatismus der Rechtfertigung will niemand hören.

Liebe Gäste!

Das Jahr 2023 war schmerzvoll und ermutigend zugleich - der nicht befriedete Krieg zehrt, Zukunftsperspektiven sind lebensnotwendig, dabei geht es Brandenburg wirtschaftlich richtig gut. Das Wort des Jahres 2023, von der Deutschen Gesellschaft für Sprache Wiesbaden ermittelt, lautet Krisenmodus, dann folgen Antisemitismus und Leseunfähigkeit. Das lässt tief blicken. Das Unwort 2023 muss man nicht wiederholen. Ich unterbreite als Vorschlag für das Wort des Jahres 2024 ZUVERSICHT. Sie setzt Vertrauen voraus. Kritische Recherche und Objektivität sind das Fundament, auf dem Vertrauen aufbaut. Vertrauen in die Presse und Vertrauen in die Politik. Gerade weil sich heute Fake news rasant verbreiten. Demokratie lebt von zuverlässigen Informationen. Demokratie lebt von informierten und mündigen Bürgerinnen und Bürgern.

Lassen Sie uns gemeinsam ein Zeichen setzen für Demokratie.

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre engagierte Arbeit und wünsche uns allen ein Jahr, in dem die Presse- und Meinungsfreiheit weiterhin ein Eckpfeiler unserer Gesellschaft ist.

Lassen Sie uns im Gespräch bleiben und einander zuhören. Gerade 2024 mit Kommunalwahlen, Europawahl und Landtagswahl.

Ich wünsche Ihnen allen ein glückliches, gesundes, friedliches Jahr 2024
mit viel guter Musik, die das Zuhören übt!

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- Es gilt das gesprochene Wort-

Eröffnung der Foyerausstellung „Haus der Ewigkeit. Jüdische Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum, 2004 bis 2024"
Grußwort der Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke

Teilnehmende u.a.:

  • Landtagsabgeordnete
  • Regierungsvertreter?)
  • Marcel-Th. Jacobs, Kurator und Vorstandsvorsitzender des Vereins „Freundeskreis zum Erhalt der jüdischen Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum e.V.“ (Einführung)
  • Dr. Anke Geißler-Grünberg, Koordinatorin und Leiterin des Projekts „Jüdische Friedhöfe in Brandenburg“ (Vortrag)
  • Musik: Klezmer-Duo KlezFez, Berlin

Anrede,

Die Ausstellung kommt zur richtigen Zeit. Denn sie zeigt die Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland und Europa vor der Shoah.

Die in Fotos dokumentierten Grabsteine erinnern an Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft: Gelehrte und Handwerker, Landwirte und Kaufleute, Soldaten und Schauspielerinnen, Künstlerinnen und Ärzte.

Auf beeindruckende Weise wird verdeutlicht, was verloren gegangen ist durch die Schuld deutscher Rassenfanatiker und ihrer Helfershelfer. Gezeigt wird eine Dokumentation gegen das Vergessen und Verdrängen. Diese Vergangenheit zu kennen ist aber unerlässlich, um die Gegenwart gestalten und die Zukunft gewinnen zu können.

In unserer Phantasie entsteht das Bild fröhlichen jüdischen Lebens neben den Grausamkeiten des Holocaust. Halten wir für einen Moment die schönen Bilder fest, das Miteinander von Arbeitskollegen, die Feste mit Kindern und Familien, die ganz alltäglichen Freundschaften von Menschen verschiedener Religionszugehörigkeiten. Daran lässt sich anknüpfen, an eine jüdische Vergangenheit, die bunt und lebensfroh war.

Aber Millionen Opfer der Shoah haben keine persönlichen Grabstätten und keine Grabsteine, nur Namen in Listen ehemaliger Vernichtungslager. Wir gedenken auch ihrer, wenn wir diese Bilder von jüdischen Friedhöfen betrachten. Auch sie gehörten zum vielfältigen Leben in Europa bis Mitte des 20. Jahrhunderts – bevor sie Opfer unzähliger Pogromen und systematischen Massenmordes geworden sind.

Jüdische Friedhöfe im mitteleuropäischen Kulturraum – das wäre vor wenigen Monaten noch ein Thema vor allem für Kulturwissenschaftler gewesen, für Geschichtsinteressierte und, auch das gehört leider dazu, für die Polizei. Denn immer noch und immer wieder werden jüdische Friedhöfe geschändet, beschmieren Täter Grabsteine mit antisemitischen Zeichen und Parolen oder stürzen sie gar um und entzwei. Das passiert nicht nur in Deutschland, aber auch hier, auch in Brandenburg.

Das ist kriminell.
Das ist verabscheuungswürdig.
Das ist eine Gefährdung humanistischer Werte der Demokratie.

Anrede,

dass die jüdischen Friedhöfe und damit das Andenken an das einst blühende jüdische Leben in Mitteleuropa bewahrt werden, dafür setzt sich der Freundeskreis ein. Zahlreiche Städte und Gemeinden haben den Mitgliedern dieses Kulturvereins viel zu verdanken.

Lieber Herr Jacobs,

Sie und Ihre Mitstreiter, auch ihr verstorbener Ehemann Klaus Jacobs, haben in den sechs Jahren seit Gründung des Freundeskreises Großartiges geleistet, mit bewundernswertem Engagement im Ehrenamt. Sie bereisen Europa, dokumentieren jüdische Gräber, organisieren Ausstellungen und Veranstaltungen.

Dafür möchte ich Ihnen im Namen des Landtages meinen Dank aussprechen und Unterstützung für Ihre weitere Arbeit zusagen.

Seit dem 7. Oktober, seit dem brutalen Angriff der Hamas auf Israel vor nunmehr drei Monaten, liegt uns die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Brandenburg besonders am Herzen. Der Konflikt im Gaza-Streifen belastet auch das Miteinander in unserem Land. Gewalt und Gegengewalt lösen keinen Konflikt. Die heute zu eröffnende Ausstallung ist eine Mahnung, ein Appell für Toleranz, für Humanismus. Die Erinnerung an die Verstorbenen und ihre Grabstätten auf den jüdischen Friedhöfen wird heute zum Symbol des Lebens und der Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft.

In Brandenburg wird es in Kürze eine Beauftragte oder einen Beauftragter gegen Antisemitismus am Landtag geben. Dazu verpflichtet uns seit 2022 nicht zuletzt die Verfassung unseres Landes.

Anrede,

der Ausstellung wünsche ich das ihr gebührende Interesse, zahlreiche Besucherinnen und Besucher und viele weitere Stationen. Der Landtag ist froh, sie zeigen zu dürfen, und wir freuen uns, dass das Duo KlezFez aus Berlin die Eröffnung musikalisch begleitet.

Vielen Dank!