Es gibt die Tage

Rudolph, das Rentier, summte die „Hymne an die Nacht“ und stapfte durch den Schnee. Er dachte darüber nach, dass er eigentlich hier im Osten ein Hirsch sein müsste, denn früher zogen hier Hirsche den Weihnachtsschlitten. Auch das mit dem Weihnachtsmann, der durch den Kamin kommt, fand er ziemlich blöd, weil wirklich kein Familienvater, den Rudolph kannte durch den Kamin passen würde, geschweige denn nach drei Gebirgskräutern noch aufs Dach steigen dürfte.

Aber das war ja alles heute anders.
Die Menschen glaubten, was sie im Fernsehen sahen. Rudolph hielt inne und sortierte in Gedanken seine Geschenke: Smartphone für Alain in Paris, Play station für Ludmila in St. Petersburg, Espressomaschine für Hio Wang in Peking, Blaue Golftasche USB 2.0 Flash Stick Speicher für James in Baltimoore, Mini LED-Beamer für Michael in… o je, Freiberg, Rheinsberg, Starnberg. Rudolph wusste es nicht mehr.

Rudolph, das Rentier, musste sich heute am Nikolaustag die Wege genau angucken und merken. In gut 2 Wochen würde er dem jeweils als Weihnachtsmann verkleideten Familienvater oder Opa am richtigen Ort die richtigen Geschenke reichen müssen. Aber irgendwie schien das in diesem Jahr ziemlich egal zu sein. Außerdem hatte Rudolph er ja diese „Hymne an die Nacht“ im Kopf. Rudolph träumte so vor sich hin, wie ihm die Kinder in den unterschiedlichsten Erdteilen ihre Arme entgegen strecken und die Geschenke dankbar entgegen nehmen würden. Sie packten dann bestimmt Unmengen an Papier und Plaste aus und fänden irgendwo mittendrin ihr elektronisches Wunschgeschenk. Von diesem Moment an würde es egal sein, ob Weihnachtsmann und Rudolph noch in der Nähe wären. Nicht einmal die „Hymne an die Nacht“ würden die Kinder noch hören, obwohl sie wirklich in jedem Weihnachtsprogramm dudelte.
So zog Rudolph, das Rentier, tapfer den Schlitten durch den tiefen Schnee, vorbei an herrlichen Schlössern, Brücken und hohen Bergen, an erleuchteten Kathedralen, alten Windmühlen und Finnhütten. G r e n z e n  gab es für ihn nicht, unerkannt zu fliegen gehörte zu seinen leichtesten Übungen. Aber genau dieses u n e r k a n n t  bleiben, gefiel Rudolph heute nicht. Darüber dachte er nach, als er zu seiner Vor-Ort-Besichtigung am 6. Dezember durch Ruppin kam, so zwischen Kunsterspring und Gühlen-Glienicke muss es gewesen sein. Auf dem Nikolaus-Schlitten hatte er eine Büchse Nürnberger Lebkuchen, Hallenser Hallorenkugeln, Lübecker Marzipan, Wurzener Spekulatius, Wilthener Gebirgskräuter  und – warum auch immer – einen Sack Korn. In Zühlen klopfte er an die Türen und verteilte Lebkuchen und ein paar Körner.
„Guck mal, das ist die rote Nase vom Rentier Rudolph “, sagte ein Junge. Ups, „er hat mich erkannt“, dachte sich Rudolph, warum eigentlich nicht. Auf dem Rheinsberger Weihnachtsmarkt knabberte er ganz offiziell Spekulatius mit einem Nikolaus und warf Körner in die Luft, die Tauben freuten sich. Im Schlosstheater sang er gleich mit einem ganzen Chor aus Weihnachtsmännern und Weihnachtsfrauen und mit dem Bürgermeister stieß er auf ein frohes Fest an, mit Gebirgskräuter natürlich. Überall verteilte er auch ein paar Körner.
„Warum machst Du das?“, fragte ihn ein schwarzäugiges Mädchen.
„Ach, das ist eine sehr alte Geschichte vom Nikolaus. Damals ließ Nikolaus, der Bischof von Myra, 3 Kornschiffe entladen und alle Menschen in Myra konnten wieder Brot backen. Die Schiffe waren auf dem Weg vom griechischen Alexandia nach Konstantinopel, heute Istanbul, und es geschah das Wunder, dass die Schiffsladung nicht weniger wurde.“  
„Ich helfe dir, Körner zu verteilen, damit es allen Menschen bei uns gut geht“, sagte das schwarzäugige Mädchen.
Und Rudolph, das Rentier, guckte auf den Grienerick-See und dachte bei sich: Es ist schön, dass so viele Menschen noch heute an den Nikolaus denken.
Es ist schön, dass sich die Menschen am Nikolaustag ein bisschen Freude schenken mit kleinen Aufmerksamkeiten, die an die Körner in Myra erinnern.
Rudolph wurde ganz warm ums Herz. Rentier sein zu dürfen, ist doch etwas wunderbares, ganz wurscht ob das früher Hirsche waren. Und unerkannt würde er ab heute nicht mehr sein, egal wie rot seine Nase leuchtete. Und während Rudolph darüber nachdachte, klang in seinem Kopf eine Hymne nach, die er im Konzert des Arbeitergesangsvereins „Vorwärts“ gehört hatte –
„Heilge Nacht, o gieße du
H i m m e l s f r i e d e n in dies Herz!
Bring dem armen Pilger Ruh,
Holde Labung seinem Schmerz!“
Rudolph hatte das schon einmal gehört, bei Ludwig van Beethoven war das. Er spielte den zweiten Satz seiner Klaviersonate f-Moll op. 57, später „Appassionata“ genannt, im Jahr 1804 leidenschaftlich und viel zu laut in einer seiner Wiener Wohnungen. Friedrich Silcher arrangierte den Klaviersatz für Chor zu einem Text von Friedrich Matthisson, ein Zeitgenosse von Schiller, Hölderlin und Claudius. So entstand die „Hymne an die Nacht“, die Rudolph jetzt summte und die ihm gar nicht aus dem Kopf ging. Und irgendwie hatte sie mit den Körnern und dem Nikolaus zu tun.
Rentier sein zu dürfen über alle Zeiten hinweg mit allen Geschichten, allen Bräuchen und aller Musik dieser Zeiten ist doch etwas sehr Schönes!

Ulrike Liedtke
Rheinsberg, 6.12.2015