Florians Reise
Eine altmodische Weihnachtsgeschichte
Krch, krch, krch ..
Bei jeder Umdrehung hing die Pyramidenachse an der gleichen Stelle. Auf drei Etagen drehte sich geschnitzte Weihnachtsgeschichte im Kreis. Nie würde das Baby erwachsen werden, der Schäfer das Lamm absetzen oder der Turmbläser ein Bier trinken dürfen.
Florian schnarcht den Pyramidenrhythmus im grellen Neonlicht eines ICE. Bald würden seine x-und neunzig Enkelkinder, deren Namen er grundsätzlich verwechselte, um ihn herum sein, auch ein Baby, vielleicht Lammbraten, Bier. Mit glücklichem Lächeln auf den Lippen verträumt Florian die Zugdurchsage. Als er um sich blickt, steht alles still.
Florian sitzt im Wagen 6, Platz 73, Nichtraucher und allein. Sein Herz klopft bis zum Hals, der Rolli schnürt ihm die Luft ab. Warum nur wagte er diese anstrengende Fahrt! Ein merkwürdiges Geräusch dringt an seine Ohren, als ob viele durcheinander redeten. Draußen mussten Menschen sein. Mitten im Dunkeln? Auf einem Bahnhof? Florian nimmt seine Reisetasche mit den Namensschildchen an den Geschenken und sucht nach einer Tür. Tausende scheinen dicht gedrängt auf einem Kleinstadtbahnsteig zu stehen, der Schaffner rennt wohl immer im Kreis. Unsicher, ob er noch träume, kramt Florian nach seiner Brille.
Nein, mit Brille hatte er noch nie geträumt, und so etwas wie heute war ihm auch noch nie passiert. Endlich sieht er die Bescherung: Menschen über Menschen, in froher Erwartung des Weihnachtsfestes, eng beieinander. Alle reden, aber niemand mit seinem Nachbarn. Beruhigende Worte, Scherze, sogar Liebesgeflüster erzählen sie in kleine, schnurlose Telefone hinein. Dabei rempeln sie einander die Geschenkekoffer auf den Zehen oder niesen sich unbeabsichtigt ins Genick. Merkwürdig, denkt Florian, lauscht dem Gemurmel und sieht sich die bunten Gestalten an. Irgendwie tun sie ihm leid.
Als der Lautsprecher etwas von einem Defekt, Austauschzug auf dem gegenüberliegenden Gleis und schönen Feiertagen krächzt, steigt ein weißhaariger Mann mit aufmerksamen Augen in den anderen Zug. Jeden Telefonierer um sich herum spricht er lächelnd an, erzählt von Felix, Fritz, Franziska, Fabian, Frank und Friederikchen, dem Baby, das er zum ersten Mal sehen würde. Auch die Telefonierer fangen an, sich zu unterhalten, tauschen Rezepte vom Lammbraten und verteilen Bier.
Später, längst gehörten die Kinder ins Bett, saßen fünf Enkel und ein munteres Baby auf dem Kinderzimmerteppich und lauschten Florians Geschichten von Menschen, die irgendwo ankommen wollten. Krch, krch, krch ...
Bei jeder Umdrehung hing die Pyramidenachse an der gleichen Stelle.
Ulrike Liedtke