Die Glocken-Terz
Weihnachtsgeschichte vom Weihnachtlichen Festkonzert 7.12.2014, Schlosstheater Rheinsberg
Es war wie es immer war. Der Glockengießer hatte die Glocken aus Bronze gegossen, 22 % Zinn und 78 % Kupfer, ganz nach Familienrezept und Richtlinien für das deutsche Glockenwesen. Der Klang durfte nur wenig gedämpft sein, die Schallgeschwindigkeit im Inneren der Glocke war niedrig, der Glockengießer hatte genau das Verhältnis von Kuppel und Glockenbauch ausgerechnet, um 2 Glockentöne im Abstand einer kleinen Terz zu fertigen. Der Kuckucksruf eben.
Die Glocken wurden in den Glockenstuhl gehängt und erst einmal vergessen.
Ein junger Kantor kam in die kleine Stadt und geriet aus Versehen an den Knopf neben der Orgel, der das Glockengeläut auslöste. Ach Du liebe Neune! Noch bevor er den Knopf zum Ausmachen fand, rannte der Tontechniker des Theaters zum Bürgermeister, weil die Unsauberkeit der kleinen Terz sein Ohr verletze. So etwas könne unweigerlich zur Berufsunfähigkeit führen.
Der Chordirektor griff zum Akkordeon und verzog das Gesicht – auch er hatte andere Vorstellungen von einer sauberen kleinen Terz.
Der Chordirektor suchte Rat beim Carnevals-Club, aber dort sagte man ihm, der RCC sei ohnehin lauter und dann würde man in der 5. Jahreszeit die Glocken sowieso nicht mehr hören.
Die Frauenchorchefin kaufte sich per online ein Glocken-Buch.
Der Bürgermeister setzte das Glockenproblem auf die Tagesordnung der Stadtverordnetenversammlung. Da passierte aber erst einmal gar nichts, weil die Tagesordnung sehr lang war und die Glocken erst drei Sitzungen später dran kommen würden.
Wie wichtig sind eigentlich Glocken?
Um das Thema nicht wieder zu vergessen, entschied der Kantor erst einmal, die Glocken abends um 10 zu läuten, sozusagen als Ersatz für den Nachtwächter.
Heimlich traf sich der Frauenchor am Montag nach der Probe an der Kirche. Mit Stimmgabel wurde die unsaubere Terz analysiert, nachgesungen und mittels Glockenbuch festgestellt, dass man schlecht höher stimmen, aber gut tiefer stimmen könne. Dass es nach oben schwieriger als nach unten ist, versteht jeder Sänger. Die Glocken mit Zinnauflage würden einen höheren Ton ergeben, das Abtragen der Zinnschicht einen tieferen.
Inzwischen wurden vom Ministerium teure Gutachten eingeholt und in der Stadt Kostenvoranschläge zum Stimmen der Glocken geschrieben.
Zwischenzeitlich liefen abends um 10 der Tontechniker und der Chordirektor mit Ohrschützern rum.
Bis zur Probe des Weihnachtsoratoriums.
Da kletterten nämlich zwei Chorkinder in den verbotenen Glockenturm. Sie wussten, dass man Zinn auf den Glocken auftragen oder abtragen müsste, um den Klang zu verändern.
Aber was die beiden Chorkinder im Glockenturm sahen, versetzte sie in großes Erstaunen:
Beide Glocken waren geschmückt mit vielen kleinen Geschenken – Zinnkrügen für Puppenstuben, Zinnfiguren zum Spielen und viele kleine Zinnengelchen hingen in den Glocken.
Die Glocken verband eine rote Schleife mit einem Schild, auf dem mit alter Schrift geschrieben stand:
Ich wünsche Euch einen fröhlichen Advent!
Die Kinder nahmen das Spielzeug mit und verteilten es. Ab sofort läuteten die Glocken zu jeder Stunde und zwei Mal sehr lange am Sonntag. Alle Schüler kamen jetzt pünktlich zur Schule, das Sonntagsessen stand rechtzeitig auf dem Tisch und der Uhrmacher verkaufte weniger Uhren. Tontechniker und Chordirektor schonten wieder ihre empfindlichen Nerven, die Carnevalisten sangen weiter schön laut und die Frauen vom Frauenchor hatten’s ja längst gewusst, dass es nur am Zinn liegen konnte.
Alle wussten jetzt, was eine kleine Terz ist.
Der Kuckucksruf eben, wie bei der St. Laurentiuskirche in Rheinsberg.
Ihre Glocken sind von 1926 und 1951, beide aus Stahl. Das hört sich an wie Gießkanne, aber die Terz ist in Ordnung!
Ulrike Liedtke