Der Laternenmann
(Prosatext zum Theaterstück von Licht, dem Mädchen und dem Stelzenläufern, Kai und Musikern, Peitsche und Kreisel. Später kommt noch LED-Licht und neue Musik dazu, auch ein bisschen Sehnsucht nach dem Laternenmann…)
Jeden Abend zündet er die Lichter an. Bedächtig nähert sich die kleine Flamme dem großen Docht, nur ein geübter Laternenmann kann ohne Umschweife den Stab durch die Nacht jonglieren. Immer, wenn er das tut, denkt er darüber nach, was er wohl heute beleuchten würde. Eine gut aufgeräumte Stube? Wache, fröhliche Leute, beim Kuchen backen, Karten spielen oder Baden? Wird ihn plötzlich der Schatten einer vorübereilenden Gestalt an der Hauswand erschrecken? Oder findet sich im Rinnstein ein verloren geglaubter Kreisel? Und überhaupt: Wird sich der Docht leicht entfachen lassen? Reicht der Talg aus in der kleinen Glaswanne der Laterne? Sonst müsste er das Wännchen erst zum Füllamt bringen, das sich kürzlich gründete. Neuerdings hatten die Stadtväter sogar das gleichzeitige Läuten der Brennglöckchen verfügt, damit alle Laternenmänner zugleich die Stadt erhellten. Eine schlechte Idee, fand der Laternenmann, er wollte sie erst putzen, die Glaswände und die weiße Porzellanscheibe, die mehr Licht zurückwarf als er überhaupt angezündet hatte, und auf Befehl ließe sich sowieso kein Licht machen. Während er so vor sich hin sinnt, erreicht er die nächste Laterne der Straße. Er zieht ein Kiefernhölzchen aus der Hosentasche, reibt dessen Schwefelspitze an seiner Schuhsohle und es brennt. Das Hölzchen zündet die Flamme im Stab an, die Flamme, zündet den Docht der Laterne an, die Laterne zündet die Gedanken an, so geht das. Und es zischt ein bisschen, wie das aneinander streichen zweier Zimbeln, die man auch klappen oder schlagen kann, als ob das Laternenfeuer flackert, auf und nieder peitscht, das Feuer macht Musik…
Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen lehnt an der Hauswand, viel zu dünn gekleidet und wahrscheinlich wieder hungrig. Der Laternenmann hätte es nicht bemerkt, wenn nicht ein Lichtschein auf das Gesichtlein gefallen wäre.
„Hast Du die Musik gehört“, fragt er das Kind.
Es nickt nur und blickt fast noch ernster als schon zuvor.
„Weißt Du, wie man danach tanzt?“
Das Mädchen nickt wieder.
„Wollen wir es mal probieren?“
Das Kind schaut ihn ungläubig an, zögert einen Moment und guckt weg.
Nun, das würde der Laternenmann schon hinkriegen, dass seine Laterne den Blick auf sich zieht. Für solche Fälle hielt er immer eine rote Porzellanscheibe bereit und prompt folgt das Kind den roten Lichtern, die jetzt über die Straße hüpfen. Es muss lachen, es gluckst froh aus dem kleinen Herzen. Als die Musiker ihre nächste Weise zu spielen anfangen, tanzen rote Lichter im Takt dazu. Ein Stelzenläufer versucht, die Lichtpunkte einzufangen.
Tatsächlich liegt ein Kreisel im Rinnstein. Das Mädchen hebt ihn auf und läuft davon. Übrigens war es die letzte Laterne, die der Laternenmann heute anzünden musste. Anders als alle anderen leuchtete sie nun rot in den Abend hinein. Wenn ein Wächter von der neuen Illuminationsanstalt kommen würde, ja, so was gab es tatsächlich, dann wäre der Ärger perfekt. Die Vorschriften sahen rotes Licht nicht vor, nicht einmal für Liebespaare.
Der Laternenmann will seine Ruhe haben. Das ist immer so, wenn sich zu viele Musiker in seiner Nähe aufhalten. Erstens sind sie immer laut, zweites essen und krümeln sie gewöhnlich in seinem schönen Licht, drittens wird man sie nur schwer wieder los. Und diese Diskussionen! Eine Klappentechnik müsste die Flöte bekommen, damit sich die Löcher im Holz besser verschließen ließen, die Trommel würde schon lange nicht mehr für neue Musik ausreichen, schließlich könne man überall draufhauen. Aber wie!
Den Laternenmann interessiert das nicht besonders. Er tüftelt, wie er mit den Porzellanscheiben Farben mischen kann, so wie die Musiker Klänge mischen. Aber Porzellan lässt k e i n Licht durch und Glas lässt z u v i e l Licht durch. Die Scheiben müssten durchsichtig sein. Dann könnte man vielleicht gelb und blau mischen und es entstünde mitten auf der Straße ein Wald…
Der Lichtschein trifft zufällig auf eines der kleinen Fenster im flachen Haus. Dort sollten alle längst schlafen, aber die Straße hat einen heimlichen Beobachter, Kai. Als er sich aus der Haustür heraus und zu dem Mädchen mit den Schwefelhölzchen schleicht, trägt Kai etwas in der Hand. Eine Peitsche. Eigentlich wollte er seinen Kreisel bei dem Mädchen zurückholen. Aber jetzt, als er das feine Gesichtlein sieht, reicht er dem Kind die Peitsche.
Es ist Weihnachten. Der Stelzenläufer tanzt beschwingt. Die Laternen schmelzen Schnee. Der Laternenmann hört den Musikern zu. Die Lichter sind angezündet.
Ulrike Liedtke